Rassismusbericht 2018

Analyse und Erläuterung zu Diskriminierungsfällen

1. Rassismus und Antisemitismus sind auch in der Schweiz ein Problem

von Michael Bischof ℹ

Eine 49-jährige Brasilianerin wird am Limmatufer rassistisch angegangen und mit Tritten und Faustschlägen traktiert. Eine junge Frau – ebenfalls aus Brasilien – wird in einem Lebensmittelgeschäft Opfer von antischwarzem Rassismus. Beim Sihlcity entdeckt ein Fussgänger antisemitische Aufkleber. Das sind nur drei Beispiele aus der aktuellen Chronologie rassistischer Vorfälle der GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus. Gemeinsam ist den drei Vorfällen, dass sie in der Stadt Zürich stattgefunden haben. Dass in der Chronologie auch Vorfälle aus der Stadt Zürich aufgeführt sind, ist positiv. Aus der Feder eines städtischen Mitarbeiters klingt das zunächst paradox. Doch die der Stadt zurecht zugeschriebene Weltoffenheit beinhaltet eben auch offene Augen gegenüber gesellschaftlichen Realitäten wie Rassismus und Antisemitismus.

Mit der Anerkennung dieser Realitäten haben wir auch in Zürich oft Mühe. [1] Deshalb sind Initiativen wie jene der GRA wichtig, die in der Chronologie auch Zürcher Vorfälle beleuchtet. Zur Dialektik des Beleuchtens gehört allerdings, dass Licht immer auch Schatten wirft. So hat die Chronologie keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Verfassenden sind sich bewusst, dass viele Fälle nicht an die Öffentlichkeit gelangen und in der Chronologie ausgeblendet werden. Das macht die Chronologie nicht minder bedeutsam. Sie weist seit 1992 jährlich darauf hin, dass Rassismus und Antisemitismus auch in der Schweiz gesellschaftliche Probleme sind. Eine Einschätzung, die von einem Grossteil der Bevölkerung geteilt wird. So erachten gemäss der nationalen Erhebung «Zusammenleben in der Schweiz» zwei Drittel der hiesigen Bevölkerung Rassismus als ein wichtiges gesellschaftliches Problem. [2] Der Anteil derjenigen, die Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu einem der fünf wichtigsten Probleme der Schweiz zählen, ist laut dem nationalen Sorgenbarometer 2018 gegenüber dem Vorjahr bemerkenswert gestiegen. [3] Müssig ist der Hinweis, im Vergleich mit anderen Staaten seien die hiesigen Verhältnisse nicht dramatisch. Weder geht es um Dramatik noch darum, sich auf dem internationalen Parkett als Musterschüler zu profilieren. Und es geht nicht darum, sich mit dem Hinweis aus der Verantwortung zu stehlen, anderenorts seien die Verhältnisse weitaus dramatischer. Denn was im konkreten Einzelfall zählt, ist, dass Vorfälle und Betroffene die ihnen gebührende Beachtung finden. Zudem: Mit geringen Fallzahlen holt man sich in Fachkreisen keine Lorbeeren. Es gibt plausible Hinweise darauf, dass ein tiefes Diskriminierungsniveau vielmehr auf ein Manko an entsprechender Sensibilität hinweist. [4]

Weit verbreitete Diskriminierungserfahrungen sind ein Fakt

Diskussionen um Rassismus und Antisemitismus werden im beruflichen und privaten Alltag oft erstaunlich faktenfrei geführt. Wer Rassismus thematisiert, stösst auf Distanzierung und Abwehr [5] und muss sich anhören, er oder sie übertreibe und stütze sich letztlich auf subjektive Empfindungen. Zu bedenken ist allerdings, dass Rassismus immer auchein subjektives, emotionales Erlebnis ist. Ist nicht eines der Anliegen des Anti-Rassismus, Menschen in ihrer Verletzlichkeit und Empfindsamkeit zu achten und zu schützen? Zudem: Woher nehmen diejenigen, die eine zu hohe Empfindlichkeit reklamieren eigentlich ihre Gewissheit? Wäre nicht vielmehr ein Mangel an Feingefühl zu beklagen?

Einschätzungen und Erfahrungen von Betroffenen sind ernst zu nehmen. Gemäss einer breit angelegten Umfrage der Europäischen Grundrechtsagentur (FRA) stellen 90 % der befragten Jüdinnen und Juden eine Zunahme des Antisemitismus fest. Die Mehrheit der Befragten stellt zudem die Zunahme von Intoleranz gegenüber Musliminnen und Muslimen und generell eine Zunahme von Rassismus fest. Ein hoher Anteil der Befragten befürchtet, im kommenden Jahr selbst von einem antisemitischen Vorfall betroffen zu werden. [6] Dass es «Ängste der Bevölkerung» ernst zu nehmen gilt, ist in integrations- und migrationsskeptischen Debatten mittlerweile zum geflügelten Wort geworden. Auffallend ist dabei, dass damit selten die Angst vor Rassismus und Diskriminierung gemeint ist. Es ist allerdings ein Fakt: Ein Viertel der 17- bis 18-jährigen Jugendlichen mit mindestens einem aus einem afrikanischen Land stammenden Elternteil sind der Ansicht, wegen ihrer Herkunft in der Schweiz diskriminiert zu werden. [7] Migration ist dabei nur vordergründig der Anknüpfungspunkt für Ausgrenzung. In Wirklichkeit richtet sie sich – von einer Position mehrheitsgesellschaftlicher und unhinterfragter Normalitätsvorstellungen aus – gegen unterstelltes «Anderssein». Das hat Auswirkungen: Gemäss einer deutschen Erhebung fühlen sich Menschen, «deren Äusseres auf eine Zuwanderungsgeschichte hinweist, […] weitaus häufiger diskriminiert, als Zugewanderte, deren Erscheinungsbild sich nicht durch Merkmale wie Hautfarbe oder Kopftuch von der Mehrheitsbevölkerung abhebt.». [8]

Dem Rassismus ist der soziale Status seiner Opfer oft ziemlich egal, vielmehr kann er sich in seinen Erscheinungsformen sehr gut mit anderen Ausgrenzungsdimensionen wie sozialer Status oder etwa Geschlecht verbinden (Mehrfachdiskriminierung). Menschen, die an Rassismusberatungsstellen gelangen, sind häufiger von sozialer und wirtschaftlicher Benachteiligung betroffen. Für sie ist das Einfordern von Rechten besonders schwierig. [9] Die Herausforderungen bestehen hier auf der Seite des Anti-Rassismus. Nach wie vor meldet nur eine verschwindende Minderheit rassistische oder antisemitische Vorfälle. [10] Das Ansprechen von Rassismus darf weder Status- oder Ressourcenfrage sein noch ausschliesslich Aufgabe von Betroffenen. Staatliche Stellen stehen hier in der Verantwortung. Wie weit ihr Engagement gehen soll, ist allerdings strittig. Sicherlich zu kurz greift der Ansatz, die staatliche Rassismusbekämpfung einzig auf die Strafverfolgung zu beschränken. Rassistische Diskriminierung umfasst mehr als einen Verstoss gegen die Rassismusstrafnorm. Das Strafrecht ist letztlich nur Ultima Ratio gegen besonders schwerwiegende und öffentliche Verstösse. Es fokussiert sich zudem einseitig auf Täterinnen und Täter. Die Lebenswelten der Betroffen, in denen sie Rassismus erleben, werden vom eng definierten Tatbestand häufig ausgeblendet. Als Instrument gegen strukturelle Benachteiligungen auf dem Wohnungs- und Lehrstellenmarkt oder respektloses oder verletzendes Verhalten im (Behörden-) Alltag ist es gänzlich untauglich.

 

Individuelle Erlebnisse stärker gewichten

Geht es um Rassismus und Antisemitismus darf nicht vergessen werden, dass individuelle Erfahrungen und Betroffenheit immer über den Einzelfall hinausdeuten. Für Betroffene ist Diskriminierung ein individuelles und emotionales Erlebnisund zugleich eine Erfahrung, die sie mit anderen teilen. [11] Dass Menschen Diskriminierung unterschiedlich erleben, ändert nichts daran, dass sie eine gemeinsame Erfahrung teilen. Individuelles Erleben und gemeinsame Erfahrungen stehen durchaus in einer Wechselwirkung. Diskriminierungserfahrungen schwarzer Menschen vergegenwärtigen grauenhafte Traditionen wie Sklaverei, Kolonialismus und die fortwährende Geschichte des antischwarzen Rassismus. Sie müssen entsprechend vor dieser Folie bewertet werden. [12] Wenn sich – ebenfalls ein Fall aus der aktuellen Chronologie der GRA – Kinder und Männer der jüdisch-orthodoxen Gemeinschaft in Zürich-Wiedikon vor einem Verfolger fürchten, ist das vor dem Hintergrund antisemitischer Gewalttaten und Verbrechen zu beurteilen. Ungeachtet der Tatsache, ob der stark alkoholisierte Verfolger von antisemitischen Motiven getrieben oder «bloss betrunken» war. Für die Betroffenen bleibt es – «Alkohol hin oder her» – eine Erfahrung mit Bezug zu ihrem Jüdischsein. Diese Betroffenenperspektive sollte bei der Bewertung anerkannt und entsprechend gewichtet werden und nicht einzig die Frage, ob strafrechtlich relevante antisemitische Motive vorliegen. Kurzum: Rassistische oder antisemitische Diskriminierung ist im Einzelfall nicht nur ein individuelles Verhalten. Sie ist immer zugleich Ausdruck von bestehenden und historisch tradierten Verhältnissen. Das relativiert die individuellen Motive im Einzelfall. Und es zeigt, dass die Dokumentation von Einzelfällen wie in der vorliegenden Chronologie wichtige Hinweise auf Erscheinungsweisen von Rassismus und Antisemitismus liefern.

Kompetenzen statt Werturteile – richterlich geprüft 

Für die Bekämpfung von Rassismus und Antisemitismus hat das Gesagte durchaus Konsequenzen. Gefordert ist nicht nur Wissen über diskriminierendes Verhalten oder die Erforschung vorhandener rassistischer und antisemitischer Einstellungen. Gefordert ist insbesondere Wissen über tradierte und historisch gewachsene Mechanismen, die das rassistische Differenzieren in «wir» und «andere» hervorbringen und dieseVerhältnissedauerhaft bestärken. In der Schweizer Öffentlichkeit wurden gesellschaftliche Folgen von Kolonialismus, historischem Rassismus und Antisemitismus und deren aktuelle Formen lange ausgeklammert. [13] Entsprechendes Wissen ist für die konkrete Diskriminierungsbekämpfung aber unabdingbar. Es ist Grundlage, um problematische Wirkungen scheinbar neutraler Verhaltensweisen oder Regelungen zu erkennen. Ein mittlerweile in der Öffentlichkeit bekanntes Beispiel einer solchen Herangehensweise ist die Debatte um racial und ethnic profiling. Die Gründe für das in vielen europäischen Ländern feststellbare häufigere polizeiliche Kontrollieren gesellschaftlicher Minderheiten sind komplex. Sie lassen sich nicht auf rassistische Vorurteile von Polizistinnen und Polizistinnen reduzieren. Ein weiteres Beispiel ist der Einfluss öffentlicher Debatten. Sie prägen die Wahrnehmung exponierter Gruppen [14] und scheinen einen Einfluss darauf zu haben, gegen wen sich konkrete Diskriminierungshandlungen richten. [15] Wissen gefordert ist letztlich auch, wenn es darum geht, Aktualisierungen von tradierten rassistischen oder antisemitischen Stereotypen aufzuzeigen. Sensibilisierungsarbeit bedingt daher immer auch Wissensarbeit.

Dank der GRA wissen wir mittlerweile nun auch richterlich geprüft, dass die Anwendung dieses Wissens nicht blosses Werten, sondern vielmehr kompetentes und faktengestütztes Beurteilenist. Die Einordnung einer Aussage als «verbalen Rassismus» ist – wie GRA vs. Switzerland (ECHR 006/2018) zeigt – nicht zwingend ein blosses Werturteil. Gestützt auf entsprechendes Fachwissen hat eine solche Beurteilung vielmehr eine faktische Basis. Dass Organisationen wie die GRA Rassismus und Antisemitismus zum Thema machen, ist wichtig. Auch wenn alltäglicher Antisemitismus und Alltagsrassismus im Einzelfall selten ein schwerer und einklagbarer Verstoss gegen Grundrechte darstellt. Beide verletzen Menschen in ihrer Würde und zielen als beständige Nadelstiche letztlich auf den Kerngehalt unserer Grundrechte.

 

ℹ Michael Bischof ist stellvertretender Leiter der Integrationsförderung der Stadt Zürich.


Literaturhinweise

[1] Siehe dazu Stadt Zürich. 2018. Rassismusbericht 2017 [Link].

[2] Bundesamt für Statistik BFS. Erhebung Zusammenleben in der Schweiz (ZidS). 2016.

[3] Credit Suisse Sorgenbarometer 2018. S. 6.

[4] Siehe El-Mafaalani, Aladin. 2018. Das Integrationsparadox.

[5] Diese Distanzierung erfolgt dabei oft denselben Mustern. Siehe Messerschmidt, Astrid. 2010. Distanzierungsmuster. Vier Praktiken im Umgang mit Rassismus. In: Broden, Anne; Mecheril, Paul [Hrsg.]. 2010. Rassismus bildet. Bildungswissenschaftliche Beiträge zu Normalisierung und Subjektivierung in der Migrationsgesellschaft. Bielefeld.

[6] Siehe FRA 2018. Experiences and perceptions of antisemitism. Second survey on discrimination and hate crime against Jews in the EU.

[7]  Siehe Baier, Dirk et al. 2019. Integration von Jugendlichen mit Migrationshinterfgrund in der Schweiz. Zürich. S. 47.

[8] Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration. 2018. «Wo kommen Sie eigentlich ursprünglich her?». Diskriminierungserfahrungen und phänotypische Differenz in Deutschland. Köln. S. 4.

[9] Locher, Reto. 2017. Der Zugang zur Justiz in Diskriminierungsfällen. In: Kaufmann, Claudia; Hausammann, Christina [Hrsg.]. 2017. Zugang zum Recht. Vom Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsschutz. Basel. S. 55.

[10] Das zeigen etwa die EU-MIDIS-Umfragen der Europäischen Grundrechtsagentur. Siehe dazu auch Handfeld, Michael 2018. Sie melden es der Polizei nicht mehr. In FAZ online [Abfrage vom 27.01.2019, 09:58 Uhr].

[11] Siehe dazu Monique Eckmann, Monique. 2018. In: Stadt Zürich. 2018. Rassismus wirkt. Kommentare zum Rassismusbericht 2017. Tagungsdokumentation. Zürich. S. 17.

[12] Siehe. Hafner, Urs. 2018. Wir alle sind Rassisten. Es gibt keine Menschenrassen. Aber es gibt Rassismus. Und er ist überall, auch da, wo er eigentlich bekämpft wird. NZZ 19.9.2018.

[13] Symptomatisch hier etwa Bundespräsident Delamuraz Aussage in der Kontroverse rund um die Schweiz im Zweiten Weltkrieg, Auschwitz liege nicht in der Schweiz. Die Auseinandersetzung über die kolonialen Verstrickungen der Schweiz sind relativ jung. Siehe dazu Purtschert, Patricia et al. [Hrsg.] 2012. Postkoloniale Schweiz. Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien. Bielefeld.

[14] Zur «Flüchtlingsdebatte» siehe etwa Wehling, Elisabeth. 2016. Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht. Köln. Zur Berichterstattung über Muslime siehe Ettinger, Patrick. 2018. Qualität der Berichterstattung über Muslime in der Schweiz. Eine Studie im Auftrag der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus EKR. Bern.

[15] So stellt der DOSYRA-Bericht 2011 fest, «dass im Jahr 2010 ein beachtlicher Anteil der gemeldeten Fälle mit einer unterschwelligen, latenten, nicht näher definierten Ausländer- oder Fremdenfeindlichkeit, der Hautfarbe oder der muslimischen Religion in Zusammenhang standen, also mit Themen, welche in der schweizerischen Öffentlichkeit stark präsent waren.» Siehe Beratungsnetz für Rassismusopfer. 2011. Rassismusvorfälle in der Beratungspraxis. Januar bis Dezember 2010. Bern. S. 12.     

2. Einschätzung: Rassismus in der Schweiz 2018

Chronologie der rassistischen Vorfälle

Die Chronologie der rassistischen Vorfälle, welche die GRA zusammen mit der Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz (GMS) herausgibt, registrierte 2018 insgesamt 46 Vorfälle, die schweizweit von den Medien publiziert wurden.

Die Vorfälle umfassen im Wesentlichen verbalen Rassismus im öffentlichen Raum und fremdenfeindliche Vorfälle, darunter Hate Speech von Politikern auf ihren Social-Media-Profilen; es wird gegen Ausländer, dunkelhäutige Menschen, Muslime, Juden oder Homosexuelle gehetzt. Aber auch ein paar Zwischenfälle am Rande von Fussballspielen mit rassistischen Beschimpfungen sowie Beschimpfungen auf der Strasse oder in Geschäften gegen ausländisch aussehende Menschen und antisemitische Beschimpfungen auf der Strasse und im Internet waren 2018 Themen in den Schweizer Medien. Es gab zwei Mal fremdenfeindliche Slogans an Fasnachtsumzügen, aber auch einige rechtsextreme Zusammenkünfte und Auftritte und einen Fall, wo ein Politiker öffentlich den Holocaust relativierte. Ein paar Mal berichteten die Medien zudem über fremdenfeindliche Schmierereien.

Alltagsrassismus aus Betroffenenperspektive im Fokus

Das Medien-Monitoring der GRA gibt eine generelle Stimmung in der Schweiz wieder und lässt sich insofern mit der Anzahl Vorfälle der Vorjahre vergleichen, hat aber keinerlei Anspruch auf statistische Vollständigkeit. Denn die Dunkelziffer von rassistischen Vorfällen blieb auch im Jahr 2018 hoch.

Die wenigstens Zwischenfälle werden den zuständigen Stellen gemeldet, geschweige denn Anzeige erstattet. Je mehr die Anlaufstellen (staatliche und private) öffentlich auf sich aufmerksam machen, desto höher ist auch die Zahl der Vorfälle, die gemeldet werden. Und nicht alle Vorfälle lassen sich in Zahlen ausdrücken, vor allem auch weil die Schweiz keine offizielle Statistik im Bereich Rassismus und Rassendiskriminierung führt.

Nebst den Zwischenfällen, welche die Medien aufnahmen, gab es auch viele Fälle, welche der GRA beinahe täglich gemeldet wurden, sei es über die GRA-Website, per Email oder telefonisch. Viele dieser Vorfälle betrafen Hate Speech (Websites mit rassistischem Inhalt, Rassismus in Whatsapp-Chats oder auf Social-Media-Profilen wie Facebook, Instagram oder Twitter), aber auch Alltagsrassismus wie Beschimpfungen oder Benachteiligungen bei der Job- und Wohnungssuche, oder, wie in einem Fall berichtet, bei der Eröffnung eines Bankkontos. Die GRA hat mit einer landesweiten Online-Kampagne im Frühling 2018 auf das wichtige Thema Alltagsrassismus aufmerksam gemacht (www.gra.ch/oeffentlichkeitsarbeit/kampagne/). Der Videoclip mit dem Namen «Der Ausländler» hat den Schweizer Auftrags- und Werbefilmpreis Edi.18 gewonnen, der jährlich von der Swissfilm Association vergeben wird.

In ihrem Rassismusbericht schreibt die Stadt Zürich zum Thema rassistische Diskriminierung/Alltagsrassismus u.a., wie wichtig es ist, die individuelle Diskriminierungserfahrung von Minderheiten ernst zu nehmen. Gerade im Alltag erleben Minderheitenangehörige oftmals subtilen Rassismus, der für Aussenstehende und nicht Betroffene schwer nachvollziehbar ist: «Die Bedeutung der Betroffenenperspektive zeigt sich etwa im Bereich des Alltagsrassismus. Die Wirkung von Alltagsrassismus ist für Menschen ohne Diskriminierungserfahrungen oft nicht nachvollziehbar. Entsprechend wird Alltagsrassismus häufig verharmlost», schreibt die Stadt Zürich in ihrem Bericht. Und weiter: «Menschen, die alltäglichen und subtilen Rassismus zur Sprache bringen, berichten, dass sie als ‹übersensibilisiert›oder ‹dünnhäutig› eingestuft werden. Entsprechend hoch ist die Schwelle, Alltagsrassismus in konkreten Situationen anzusprechen.»

Rassistische Vorfälle, welche in den Medien keine Beachtung finden, werden auch durch das «Beratungsnetz für Rassismusopfer» – koordiniert von humanrights.ch/MERS und der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR) – jährlich in einem Bericht zu rassistischen Vorfällen aus der Beratungspraxis publiziert. In diesen Berichten werden Fallgeschichten ausgewertet, welche von den angeschlossenen Beratungsstellen in einer gemeinsamen Datenbank anonymisiert erfasst wurden. Zudem publiziert die EKR jeweils im Frühsommer ihren Jahresbericht, in dem internationale und nationale Urteile und Entscheide zu rassistischer Diskriminierung in den verschiedenen Lebensbereichen dargelegt werden (www.ekr.admin.ch).

Fremdenfeindlichkeit und extremistische Einstellungen

Dass subtile Fremdenfeindlichkeit im Alltag und Ablehnung des «Fremden» noch immer in vielen Köpfen vorhanden ist, zeigt auch eine Studie, die von zwei Dozenten der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) sowie von der Hochschule für Sozialarbeit Freiburg durchgeführt wurde. Dabei wurden 2017 über 8000 Jugendliche in zehn Kantonen befragt: Sechs Prozent der Schweizer Jugendlichen sind demnach rechtsextrem, sieben Prozent linksextrem eingestellt. Als islamistisch extrem gelten knapp drei Prozent der befragten muslimischen Jugendlichen. Wie Professor Dirk Baier vom Institut für Delinquenz und Kriminalprävention an der ZHAW, Mitautor der Studie, sagt, dürfe demnach auch in Zeiten rückläufiger Gewaltstatistiken die Präventionsarbeit keinesfalls nachlassen. Die Schweiz hat zwar 2017 den Nationalen Aktionsplan ins Leben gerufen, mit dem sie zeigt, dass ihr Präventionsarbeit wichtig ist. Aber laut Baier fokussiert dieser Plan noch zu sehr auf islamistischen Extremismus. «Die Politik muss die verschiedenen Extremismen ernst nehmen und die Präventionsarbeit mit ausreichend Ressourcen unterstützen», so Baier. Was aus der Studie aber ebenfalls abzuleiten ist, ist die Tatsache, dass der Grossteil der jungen Menschen in der Schweiz sich nicht mit extremistischen Positionen identifizieren kann und stattdessen demokratische Werte unterstützt. Das bedeutet laut Baier auch, dass die Schulen in der Präventions- und Erziehungsarbeit eine wichtige Rolle spielen – die Demokratiebildung würde gut umgesetzt, so Baier.

(Die GRA hat Dirk Baier im Nachgang an die Publikation der Studie befragt. Das ganze Interview lesen sie hier)

Dass die Schulen ein sehr wichtiger Player bei Aufklärung und Rassismusprävention sind, hat auch die GRA erkannt und unterstützt und entwickelt laufend Lerntools zu den Themen Rassismus/Antisemitismus sowie Holocaust Education für Schulen und Bildungseinrichtungen (mehr unter www.gra.ch/bildung/bildung-und-erziehung).

Im Oktober 2018 wurde zudem die GRA-Partnerorganisation Stiftung Erziehung zur Toleranz (SET) wieder aktiviert, die sich u.a. auch um Toleranzförderung im Vorschulalter stark macht.

Antisemitismus

Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG), der antisemitische Vorfälle sammelt, verzeichnete 2018 42 antisemitische Vorfälle, wobei das Internet jeweils separat analysiert wird. Diese Zahl betrifft also nur Vorfälle ausserhalb des Internets, welche dem SIG gemeldet oder in den Medien erwähnt wurden. Am gravierendsten waren 2018 ein Angriff mit einem Messer auf eine Gruppe orthodoxer Juden in Zürich, mehrere Beschimpfungen von Juden auf der Strasse sowie die offen antisemitische Rede von Tobias Steiger an der PNOS-Demo in Basel. Der vollständige Antisemitismus-Bericht des SIG befindet sich unter www.antisemitismus.ch.

Auch die GRA musste sich 2018 wieder vermehrt mit antisemitischen Vorfällen beschäftigen, welche ihr gemeldet wurden. Dabei ging es hauptsächlich um Beratungen von Lehrern und Zwischenfälle auf Sportplätzen und an Schulen, namentlich Gymnasien ‒ das Rassismusproblem besteht an Mittelschulen genauso wie an Sekundar- oder Berufsschulen. Die GRA bietet sich als Anlaufstelle für Schulleitungen und Betroffene an, um in Konflikten zu vermitteln und Lösungen zu suchen. Wie auch die jährlichen Berichte der EKR zu Rassismusvorfällen aus der Beratungspraxis zeigen, ist die Schule nach dem Arbeitsplatz mit am stärksten von rassistischen Vorfällen betroffen. Dabei sind vor allem jüdische Jugendliche, aber auch Muslime und Schüler mit dunkler Hautfarbe tangiert. Am Anfang stehen oft Beschimpfungen in Whatsapp-Chats oder in sozialen Netzwerken (www.gra.ch/bildung/umgang-mit-rassismus-und-antisemitismus-an-schulen), die eine Eigendynamik entwickeln, welche schwer zu stoppen ist. Deshalb ist auch das Bedürfnis nach Präventions- und Toleranzprojekten seitens der Schulen gestiegen; die GRA hat deshalb auch, wie oben bereits ausgeführt, im letzten Jahr die Stiftung für Erziehung zur Toleranz (SET) wieder zum Leben erweckt, die genau dieses Bedürfnis abdecken soll.

Rechtsextremismus

Der Lagebericht des Nachrichtendienstes des Bundes hält fest, dass das Thema Flüchtlinge und Migration nach dem Peak im Jahr 2015 zusammen mit den Migrationszahlen wieder zurückgegangen ist. Somit bietet es auch der rechtsextremen Szene weniger Motivation für nennenswerte Aktionen als auch schon. Der Nachrichtendienst schreibt, dass «sich die rechtsextreme Szene so bedeckt hält wie seit Jahrzehnten nicht» und dass das Gewaltpotential der Rechtsextremen unverändert bleibe. Dennoch verzeichnete die Chronologie der rassistischen Vorfälle 2018 etwas mehr rechtsextreme Aufmärsche und Zusammenkünfte als in den vergangenen Jahren. Dennoch bleibt die gesellschaftliche Bedeutung der rechtsextremen Szene in der Schweiz im Vergleich zum Ausland klein.

Muslimfeindlichkeit

Im letzten Jahr gab es einige muslimfeindliche Vorfälle, die an die Öffentlichkeit gelangten, u.a. zum Beispiel Diskriminierung beim Einlass in einen Nachtclub oder fremdenfeindliche Sprüche auf Facebook gegen einen muslimischen Politiker, um nur wenige zu nennen.

2018 erschien zudem eine Studie des Forschungsinstituts Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich im Auftrag des EKR über die Qualität der Berichterstattung über Muslime in der Schweiz. Die Studie analysierte den Inhalt einer Stichprobe von Zeitungsartikeln, die zwischen 2009 und Mitte 2017 in 18 Printmedientiteln der drei grossen Sprachregionen publiziert wurden und kam dabei zum Schluss, dass es eine starke Zunahme von Beiträgen gibt, die Distanz gegenüber Muslimen in der Schweiz erzeugen. Dabei nahm zwischen 2009 und 2017 der Anteil an negativ konnotierten Berichten von 22% auf 69% zu. Dies ist teilweise mit der Konzentration auf die Themen Radikalisierung und Terrorismus erklärbar, wie die Macher der Studie betonen. Zudem werden laut Studie vor allem Muslime gezeigt, die radikale Positionen vertreten und es wird vor allem über Muslime in der Schweiz berichtet, ohne dass sie dabei persönlich zu Wort kommen.

Es ist dies bereits die dritte Studie des EKR über Minderheiten in den Medien. 2013 gab es eine ähnliche Studie über die Roma, vier Jahre später über Schwarzen-Rassismus. Es ging dabei auch um die Rolle, welche Medien bei der Bekämpfung von Diskriminierung spielen können. Dabei kam zutage, dass die Medien eine manchmal problematische Rolle bei der Berichterstattung über Minderheiten innehaben.

Sinti und Roma

2018 verzeichnete die GRA-Chronologie lediglich zwei Vorfälle, welche Sinti und Roma betrafen. Darunter war aber ein gravierender Vorfall, bei welchem die Junge SVP Bern mit einem Wahlplakat gegen Fahrende hetzte. Trotz der tiefen Zahlen von öffentlich bekannt gewordenen Vorfällen ist die Schweiz noch weit von einem guten Umgang mit der fahrenden Minderheit entfernt. Dies bestätigt auch das Gutachten über die Schweiz, das der Europarat kürzlich für das Rahmenabkommen zum Schutz nationaler Minderheiten erstellt hat. Das Gutachten konstatiert einen Mangel an Stand- und Durchgangsplätzen sowie eine zunehmende Intoleranz gegenüber Jenischen, Sinti und Roma. Weiter wird im Gutachten die Benachteiligung von internationalen Fahrenden gegenüber Schweizer Fahrenden betont sowie die noch immer nicht umgesetzte Anerkennung der Roma als nationale Minderheit.

Schlussbemerkung

Das Internet mit seinen diversen Plattformen bleibt der Hauptverbreitungsort für verbalen Rassismus und Antisemitismus. Die mühelose Zugänglichkeit von diskriminierendem Material und Posts im Internet, das rasende Tempo, in welchem die Texte zirkulieren sowie die Fülle an Texten macht die Netzkommunikation zu einem wichtigen Umschlagplatz für Hass jeglicher Couleur. Hassrede kann so leicht zu einer Vorstufe für Gewalt auch in der nicht-digitalen Welt werden.

Die Dunkelziffer von rassistischen Vorfällen in der Schweiz bleibt hoch. Die wenigsten Zwischenfälle werden den zuständigen Stellen gemeldet und es wird auch selten Anzeige erstattet.

Ein thematischer Schwerpunkt lag 2018 bei der Sensibilisierung der Schweizer Öffentlichkeit für das Problem Alltagsrassismus. GRA und GMS setzten mit ihrer nationalen Online-Kampagne und der Neuinterpretation des «Schacher Seppli» ein hörbares Zeichen gegen jegliche Form von Rassismus im Alltag.

Die frühzeitige Prävention und Aufklärung an Bildungsinstitutionen, aber auch Zivilcourage sowie klare politische Statements bleiben unabdingbar bei der wirksamen Bekämpfung von Rassismus und Rassendiskriminierung. Denn es gilt: Jeder Angriff auf eine Minderheit stellt auch einen Angriff auf die demokratischen Werte unserer Gesellschaft dar.

Die Chronologie der GRA wird dabei auch in Zukunft ihre zentrale Aufgabe als Watchdog wahrnehmen und rassistische, fremdenfeindliche und diskriminierende Vorfälle in der Schweiz kritisch bewerten und systematisch nach erprobten Kriterien und Kategorien auflisten, damit aktuelle diskriminierende Vorfälle in der Schweiz sichtbar gemacht und für die nachfolgenden Generationen festgehalten und archiviert werden.

3. Interview mit Dirk Baier über die Studie «Extremistische Einstellungen bei Schweizer Jugendlichen»

Herr Baier, was für Konsequenzen würden Sie aus den Ergebnissen der Studie ziehen, oder anders gefragt: In welchem Bereich sehen Sie am ehesten Handlungsbedarf?

Eine zentrale Konsequenz der Studie ist meiner Ansicht nach zunächst die Sensibilisierung ganz verschiedener Akteure. Hierfür ein Beispiel: In der jüngeren Zeit scheint der Rechtsextremismus in der Schweiz auf dem Rückzug. Die Daten des Nachrichtendienstes des Bundes zu diesem Bereich gehen deutlich zurück. Wir konnten nun aber zeigen, dass rechtsextremes Denken in den Köpfen einiger Jugendlicher vorhanden ist. Ausländerfeindliche, rassistische oder antisemitische Einstellungen gibt es weiterhin in der Schweiz. Die Präventionsarbeit darf also auch in Zeiten rückläufiger Gewaltstatistiken keinesfalls nachlassen, so eine zentrale Folgerung. Mit dem Nationalen Aktionsplan hat die Schweiz ein Zeichen gesetzt, dass ihr die Präventionsarbeit weiterhin wichtig ist. Gleichwohl fokussiert dieser noch zu stark auf den islamistischen Extremismus. In Bezug auf die Politik ist daher zu formulieren, die verschiedenen Extremismen ernst zu nehmen und die Präventionsarbeit mit ausreichend Ressourcen zu unterstützen ist. Wichtig ist mir an dieser Stelle, darauf hinzuweisen, dass die Studie gleichzeitig nicht Anlass bietet, all das, was in der Vergangenheit getan wurde, in Frage zu stellen. Auch wenn extremistische Einstellungen durch die Befragung sichtbar gemacht wurden, hat sie doch ebenfalls gezeigt: Der grösste Anteil der jungen Menschen ist nicht einverstanden mit extremistischen Positionen und identifiziert sich stattdessen mit der Demokratie und zentralen demokratischen Prinzipien. Die Schulen spielen hierfür eine wichtige Rolle; die Demokratiebildung wird anscheinend gut umgesetzt. Eine Konsequenz, die ich zusätzlich aus den Ergebnissen ableiten würde, ist, die Prävention des Linksextremismus zu intensivieren. Bislang gibt es noch wenig Präventionskonzepte zu diesem Phänomenbereich, höchstwahrscheinlich auch deshalb, weil Uneinigkeit darüber herrscht, wo demokratische Ideen enden und linksextreme Positionen anfangen. Bei der Entwicklung solcher Konzepte sind dann verschiedene Akteure gefragt; hier sehe ich bspw. auch eine Verantwortung auf Seiten der Wissenschaft und Hochschulen.

Welche extremistischen Gruppierungen stellen aus Ihrer Sicht die grösste Problematik dar?

Das grösste Problem würde zweifellos von Gruppierungen ausgehen, die rücksichtslos das Leben von Menschen in Gefahr bringen bzw. die zur Verdeutlichung ihrer Ziele terroristische Anschläge durchführen und damit Menschen töten. In der Schweiz sehe ich derzeit nicht, dass es solche Gruppierungen gibt. Nicht auszuschliessen ist, dass Einzelpersonen eine solche Tat ausführen könnten – Deutschland hat wiederholt gezeigt, dass Fahrzeuge, also jedermann zugängliche Objekte, hierfür genutzt werden können und es keiner Waffen bedarf. Dass es aber Gruppen gibt, die so etwas planen, bezweifle ich. Wenn wir über die Problematik sprechen, reden wir also über eine andere Qualität der Gefahr. Linksextremistische Gruppierungen stellen derzeit wohl die aktivste Bewegung in der Schweiz dar, die sich aber meist in der Gewalt gegen Sachen niederschlägt. Im Einzelfall gibt es auch Übergriffe auf Polizistinnen und Polizisten, dies darf nicht ignoriert werden. Es gibt aber keine Strategie der Gewalt gegen Polizistinnen und Polizisten, also Anschläge auf Polizeiwachen o.ä. Auch wenn der Linksextremismus zu erwähnen ist, fällt es mir insgesamt schwer, eine Art Gefährlichkeits-Hitliste der extremistischen Gruppen zu erstellen. Unsere Studie hat zwar unterschiedlich hohe Zustimmungsquoten zu den einzelnen Extremismen gezeigt; das zentrale Ergebnis ist aus meiner Sicht aber: Alle extremistischen Positionen finden unter einer kleinen Gruppe an Jugendlichen Zustimmung. Es gibt also ein Potenzial für alle Extremismusformen. Die Frage ist nun. Wird dieses Potenzial aktiviert? Gibt es also Ereignisse, die junge Menschen dazu bringen, entsprechend ihren Einstellungen zu handeln? In Chemnitz in Deutschland haben wir gesehen, wie ein vermutlich durch einen Flüchtling verübtes Tötungsdelikt rechtsgesinnte Menschen dazu bringt, unschuldige Flüchtlinge körperlich anzugreifen. Auch für andere Extremismen sind solch auslösende Ereignisse denkbar. Insgesamt bedeutet dies: Alle Formen extremistischen Denkens stellen ein Problem dar, weil sie Freund-Feind-Schemata beinhalten, die dazu führen können, die als Feinde deklarierten Personen gewaltsam zu bekämpfen.

Wie erklären Sie sich das doch relativ tiefe Gewaltpotential von extremistischen Jugendlichen in der Schweiz im Vergleich zum Ausland? Was macht die Schweiz da allenfalls besser?

Bislang gibt es noch keine systematisch ländervergleichende Einstellungsforschung zum Extremismus, weshalb wir nicht mit Sicherheit sagen können, dass die Schweiz hier unterdurchschnittlich belastet wäre. Allerdings ist die Annahme, dass es so ist, durchaus legitim. Im Bereich der Jugendkriminalität und Jugendgewalt wissen wir bspw., dass die Schweiz recht gut dasteht. Und die Gründe hierfür dürften auch präventiv wirksam mit Blick auf den Extremismus sein. Zu nennen ist u.a., dass es gute Perspektiven für Jugendliche gibt, die Schule abzuschliessen und eine Berufsausbildung und später einen Job zu finden. Arme und benachteiligte Familien bleiben in der Schweiz auch nicht auf sich allein gestellt, so wie das in den USA der Fall ist; stattdessen gibt es verschiedene Unterstützungsmassnahmen wie die Sozialhilfe, die Familien finanziell abzusichern helfen. Die Schulen in der Schweiz sind mittlerweile für die Thematiken Gewalt und Extremismus sensibilisiert und führen verschiedene Präventionsprojekte durch – wobei es mit Blick auf den Linksextremismus noch Entwicklungspotenzial gibt. Auch die soziale Arbeit im Jugendbereich, so bspw. die aktive offene Jugendarbeit ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Nicht zu vergessen ist, dass in der eher klein- und mittelstädtisch geprägten Schweiz die sozialen Netzwerke der Menschen weniger anonym sind. Man kennt sich bspw. besser  in der Nachbarschaft, passt mehr aufeinander auf, und – so würden die Kriminologen sagen – kontrolliert sich in seinem Verhalten gegenseitig stärker. Betont werden sollte aber gleichfalls, dass in der Schweiz noch nicht alles zum Besten steht: So wissen wir, dass in der Kindererziehung häufiger als in anderen Ländern auf körperliche Gewalt zurückgegriffen wird; solche Erziehungsformen wirken sich auch auf Vorurteile und die Entwicklung von Feindbildern, die dem Extremismus zugrunde liegen, aus. Gegen Gewalt in der Erziehung könnte von politischer Seite daher noch energischer vorgegangen werden.

Herr Baier, wir danken Ihnen für Ihre Ausführungen.

ℹ Prof. Dirk Baier arbeitet am Institut für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) und ist Mitautor der Studie über extremistische Einstellungen bei Schweizer Jugendlichen.

4. Themenschwerpunkt Racial Profiling

ein illustratives Beispiel für das Auftreten von struktureller Diskriminierung in der Schweiz – von Andi Geu ℹ

Sékou A. steigt zusammen mit Hunderten von anderen Pendlerinnen und Pendlern aus dem Zug. Es ist früher Morgen an einem grossen Bahnhof in der Schweiz. Menschen strömen routiniert in Richtung Ausgang oder zu den Rolltreppen, die zu den Anschlusszügen führen. Herr A. arbeitet seit mehreren Monaten in der grossen Stadt, er trägt einen Rucksack und einen Kaffeebecher mit sich und arbeitet sich langsam durch die Menge. In einigen Metern Entfernung sieht er eine Patrouille der lokalen Stadtpolizei, die – unterstützt von einem Polizeihund – die Passantinnen und Passanten mustert. Wird es jetzt gerade wieder passieren? Sékou A. ist etwas knapp dran, der Zug war verspätet. Doch zielstrebig wird er als einzige Person aus der Menge angesprochen: «Können Sie sich ausweisen, bitte?»

In den letzten Monaten wird in der Schweizer Öffentlichkeit zunehmend über das Phänomen Racial Profiling diskutiert. Dies ist zum einen wohl der grösseren medialen Aufmerksamkeit für Polizeigewalt in den USA und der #BlackLivesMatter-Bewegung geschuldet, die auch hierzulande für Schlagzeilen sorgen. Zum anderen kam es rund um einige lokale Gerichtsverfahren auch in der Schweiz zu Berichterstattung und zu zunehmender Forschung zu diesem Phänomen. Dabei gelang es sowohl der Allianz gegen Racial Profiling (www.stop-racial-profiling.ch), einem Zusammenschluss von Personen und Organisationen, die sich gegen strukturellen Rassismus einsetzen, wie auch verschiedenen Dialogprojekten von Institutionen der Zivilgesellschaft, das Thema in die Öffentlichkeit zu bringen.

Zur Terminologie

Der Begriff Racial Profiling bezeichnet alle Formen von diskriminierenden Kontrollen gegenüber Personengruppen, welche von Polizisten und Polizistinnen als ethnisch oder religiös «anders» wahrgenommen werden.

Der Ausdruck Racial Profiling stammt aus den USA, wo vor allem AfroamerikanerInnen und Personen lateinamerikanischer Abstammung überdurchschnittlich oft von polizeilichen Personenkontrollen betroffen sind. Es wird in diesem Zusammenhang auch von Ethnic Profiling gesprochen, weil die Hautfarbe nicht den einzigen Grund für missbräuchliche Personenkontrollen darstellt. Im Schweizer Kontext sind neben dunkelhäutigen Menschen auch Personen aus der Balkanregion (insbesondere Roma) sowie aus arabischen Ländern und Musliminnen und Muslime von ungerechtfertigten polizeilichen Kontrollen betroffen.1

Profiling meint ein zielgerichtetes Kategorisieren von Menschen; Menschen werden sozialen Gruppenkategorien, wie zum Beispiel Geschlecht, Alter, soziale Schicht, Ethnie, soziale Rolle, sexuelle Orientierung etc. zugeordnet. Solche Kategorisierungen finden spontan bei jeder zwischenmenschlichen Wahrnehmung statt. In manchen Zusammenhängen werden soziale Kategorisierungen als Methode verwendet, um bestimmte Ziele zu erreichen. So wird der Fussballscout anhand bestimmter Suchkategorien (Verteidiger, nicht älter als 21, nicht teurer als Fr. 100‘000 etc.) auf die Spielersuche gehen. Oder die Marketingfachfrau versucht, das Zielpublikum ihres Produkts einzugrenzen, indem sie gewisse Eigenschaften des Produkts hervorhebt und diesen Eigenschaften bestimmte soziale Kategorien zuordnet, welche dann die Zielgruppe definieren. Beides ist Profiling im Sinne des zielgerichteten Kategorisierens von Menschen.

Auch für die Polizei ist Profiling eine wichtige Arbeitsmethode, vor allem bei den Ermittlungen zu einem Delikt. Da wird aufgrund von Zeugenaussagen, von Tatortspuren und Hypothesen zum Tathergang ein Täterprofil erstellt, welches unter anderem auch soziale Kategorisierungen enthalten. Wenn danach Menschen, die diesem Profil entsprechen, auf den Radar der Polizei geraten, so sind sie verdächtig und werden überprüft. Solange diese Profile auf objektiven Fakten beruhen, die statistisch nachweisbar ausgeprägte Hinweise für kriminelle Aktivitäten sind, ist an diesem kriminalistischen Profiling nichts auszusetzen.

Problematisches Profiling

Sékou A. wird nicht zum ersten Mal von der Polizei aufgefordert, sich auszuweisen. Manchmal passiert es jeden Monat, manchmal sogar jede Woche. Er hat schon verschiedene Reaktionen ausprobiert: meistens ist er höflich und zeigt seinen Schweizer Pass, den er immer dabeihat, wenn er das Haus verlässt. Er macht sich das Leben sonst nur selbst schwer. Doch heute ärgert sich Sékou A., dass er schon wieder kontrolliert wird und alle anderen Pendlerinnen und Pendler unbehelligt ihres Weges gehen können. Heute fragt er: «Gibt es einen konkreten Verdacht, der dazu führt, dass Sie mich kontrollieren?»

Ethnisches Profiling wird dann zum Problem, wenn die Methode auf diskriminierende Weise angewandt wird. In der Praxis wird dieser Vorwurf vor allem in Zusammenhang mit Personenkontrollen durch die Polizei und die Grenzschutzbehörden erhoben, und zwar dann, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind:

  1. das Verhalten der kontrollierten Person gibt keinen Anlass für die Personenkontrolle;
  2. die kontrollierte Person wird aufgrund ihres Erscheinungsbildes von den Sicherheitsbeamten als ethnisch oder religiös «fremdartig» wahrgenommen.

In einem solchen Fall ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass die gruppenbezogene Zuschreibung das hauptsächliche Motiv für die Überprüfung der Person ist. Dies ist als sachlich ungerechtfertigte Ungleichbehandlung, d.h. als verbotene Diskriminierung zu bewerten.

Sachlich begründetes Profiling

Wenn die ethnische oder religiöse Zuschreibung hingegen ein sachlich begründetes Element zum Beispiel im Steckbrief einer zur Fahndung ausgeschriebenen Person ist, handelt es sich zwar auch um ein Profiling, aber ohne diskriminierenden Charakter, weil es sachlich eben begründet ist.

In der Schweiz hat die Polizei unter anderem den Auftrag, ausländerrechtliche Massnahmen durchzusetzen. Das macht es in der Realität oft schwierig, den Nachweis zu erbringen, ob es sich um ein ungerechtfertigtes, also rassistisches Profiling handelt oder nicht. Eine Kontrolle kann zum Beispiel mit Verweis auf das Ausländerrecht begründet werden, doch das subjektive Gefühl der Ausgrenzung und der ungerechtfertigten Kontrolle bleibt bei den Betroffenen trotzdem bestehen – insbesondere, wenn man sich mit hellhäutigen Bekannten darüber unterhält, wie oft sie denn von der Polizei kontrolliert werden.

Strukturelle Diskriminierung

Wenn mit der Polizei das Gespräch über rassistisches Profiling gesucht wird, verweist diese oft darauf, dass es sich um äusserst seltene Einzelfälle handle, die intern angegangen würden. Oft wird darauf verwiesen, dass es sich bei diesen Fällen um Polizistinnen oder Polizisten handle, die neu im Dienst seien und sich noch nicht auf ihre Erfahrungswerte verlassen könnten. Doch das widerspricht den Schilderungen vieler von Racial Profiling Betroffenen, die nicht nur von jungen Beamtinnen und Beamten kontrolliert werden und sich doch diskriminiert fühlen.

Vielmehr scheint das rassistische Profiling ein Phänomen zu sein, an dem sich exemplarisch aufzeichnen lässt, wie strukturelle Diskriminierung funktioniert. Zu struktureller Diskriminierung kommt es vorwiegend dort, wo diskriminierende Handlungen nicht auf böswillige Absichten von einzelnen Individuen zurückzuführen sind, sich aber überproportional oft einstellen. Gründe, dass es zu diesen Verzerrungen kommt, können zum Beispiel historisch gewachsene Praktiken sein, Vorurteile oder Privilegien. In der Regel ist es wohl eine Kombination verschiedener Faktoren, die dazu führt, dass beispielsweise Kinder mit Migrationshintergrund überproportional oft in die Realschule eingestuft werden, Frauen überproportional oft in Branchen mit prekären Arbeitsbedingungen und tiefen Löhnen arbeiten – oder Dunkelhäutige überproportional oft von der Polizei kontrolliert werden.

Doch die Wirkung auf die Betroffenen ist nichtsdestotrotz schwerwiegend. Genau in solchen Fällen sind zur Veränderung des strukturell diskriminierenden Systems neue Entscheidungen, Richtlinien und Prozesse vonnöten. Die Behebung von strukturellen Diskriminierungen muss von der Institution als Ganzes angegangen werden, ist insofern also ein Führungsthema einer jeden Institution. Sie kann von einzelnen Mitarbeitenden – und seien sie noch so gutwillig – ohne Unterstützung der Leitung nur beschränkt verändert werden. Allerdings braucht es in den meisten Institutionen engagierten, internen Support für ein Thema, um die Führungsebene zum Umdenken zu bewegen. Mögliche Ansätze, wie Polizeicorps sich des Phänomens des rassistischen Profilings auf dieser strukturellen Ebene annehmen könnten, gibt es zahlreiche: in der Rekrutierung, der Aus- und Weiterbildung sowie der Qualitätssicherung in Bezug auf Personenkontrollen, beim Dialog zwischen Polizei und häufig kontrollierten Personengruppen, bei der Handhabung von Beschwerden von kontrollierten Personen oder bei der Dokumentation effektiv durchgeführter Kontrollen, dem politisch oft geforderten Ticketsystem2.

Fazit

Das ruhige und höfliche Auftreten von Sékou A. zeigte Wirkung. Die Polizeipatrouille reflektierte ihr Verhalten, verzichtete darauf, den Ausweis von Herrn A. zu kontrollieren und entschuldigte sich bei ihm.*

Damit es allerdings zu weniger solchen Fällen von rassistischem Profiling (und anderen Formen der strukturellen Diskriminierung) und dafür zu mehr Reaktionen wie im Beispiel oben kommen könnte, braucht es nicht «nettere» Polizistinnen und Polizisten. Erst wenn die Polizeien institutionell und auf der Führungsebene Verantwortung übernehmen und die Entscheidung treffen, dass es sich hierbei effektiv um ein strukturelles Problem handelt, das angegangen werden muss, wird diese Reaktion üblich werden und werden sachlich nicht begründbare ethnische Personenkontrollen verschwinden.

*Die Situation von Sékou A. wurde zu Illustrationszwecken erfunden.

ℹ Andi Geu ist Ko-Geschäftsleiter von NCBI Schweiz, dem National Coalition Building Institute Schweiz. Er studierte an der Universität Bern Philosophie, Soziologie und Religionswissenschaften und arbeitet seit 2003 hauptberuflich für NCBI.


Literaturhinweise

[1]  Weiterführende Hintergrundinformationen zum Phänomen Racial Profiling finden Sie im Themendossier von humanrights.ch (siehe www.humanrights.ch/de/menschenrechte-themen/rassismus/rassistisches-profiling/) sowie in einer Dokumentation der Allianz gegen Racial Profiling (zugänglich via www.stop-racial-profiling.ch/wp-content/uploads/2016/10/Dokumentation_def.pdf).

[2] Die Idee eines Quittungssystems bei polizeilichen Kontrollen sieht vor, dass die kantonalen und städtischen Polizeikorps bei durchgeführten Kontrollen der kontrollierten Person eine Quittung ausstellen, auf der Zweck, Ort, Zeit und Grund einer Polizeikontrolle schriftlich festgehalten werden. Dies soll zu einem sorgfältigeren und reflektierten Umgang mit Kontrollen führen – und es gibt regelmässig kontrollierten Personen einen Nachweis in die Hand, dass sie oft von Kontrollen betroffen sind.

5. Themenschwerpunkt Interreligiöser Dialog als Instrument zur Prävention von Diskriminierung

von Marc Bundi ℹ

Interreligiöser Dialog ist der Prozess der Verständigung und des Zusammenwirkens von Gläubigen verschiedener Religionen und unterschiedlicher kultureller Prägung in einem Klima des wechselseitigen Respekts und gegenseitiger Achtung. Die am Dialog Beteiligten anerkennen einander in ihrer fundamentalen Andersheit als gleichberechtigte Partner. Sie stehen der eigenen und fremden religiösen Tradition offen gegenüber und respektieren andere Glaubensüberzeugungen. Absolutheits- und Exklusivitätsansprüche auf Alleingeltung der eigenen Religion sollen überwunden und Wahrheitsansprüche der verschiedenen Religionen gleichberechtigt nebeneinander gestellt werden.

Interreligiöser Dialog ist aber auch ein gesellschaftliches Projekt, das auf ein selbstbestimmtes, gleichberechtigtes und friedliches Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit ausgerichtet ist. Dabei gilt es Differenzen zu respektieren und gleichzeitig nach einer gemeinsamen Basis zu suchen, auf der ein fruchtbares gesellschaftliches Zusammenleben in gegenseitiger Achtung und gutem Einvernehmen möglich ist.

Das Hauptziel des interreligiösen Dialogs besteht – auf lokaler, gesellschaftlicher und internationaler Ebene – in der Förderung eines friedlichen und gleichberechtigten Zusammenlebens sowie in der Verhinderung von Radikalisierung.

Durch Migrations-, Individualisierungs- und Ausdifferenzierungsprozesse hat sich in der Schweiz seit den 1990er Jahren eine religiös und weltanschaulich heterogene Landschaft herausgebildet. Mit der zunehmenden religiösen Pluralisierung und der fortschreitenden Säkularisierung der Gesellschaft ergeben sich Veränderungen im Verhältnis von Staat und Religion. Der Kanton Zürich hat auf diese Veränderungen reagiert und im November 2017 eine Orientierung zur Gestaltung des Verhältnisses von Staat und Religion vorgelegt. Darin wird in einem ersten Leitsatz festgestellt, dass die Kirchen und Religionsgemeinschaften wesentlich für die Gemeinschaft sind, weil sie an Wertgrundlagen mitwirken, die für das Gemeinwesen unerlässlich sind und die der säkulare Staat nicht selber schaffen kann. Die Anerkennung der gesellschaftsrelevanten Rolle von Religion für die Gestaltung des Gemeinwesens durch den Staat ist in dieser Art zukunftsweisend. Im zweiten Leitsatz wird festgehalten, dass Religionen den öffentlichen Frieden wahren und zum friedlichen und solidarischen Zusammenleben beitragen, indem sie Werte wie Nächstenliebe, Toleranz und Gewaltlosigkeit vermitteln. Zusammen mit dem Staat sind die Religionsgemeinschaften heute neben anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren zentrale Trägerinnen für ein friedfertiges und tolerantes Zusammenleben in unserer Gesellschaft. Dabei sind sich die staatlich anerkannten Kirchen als intermediäre Organisationen ihrer besonderen gesellschaftlichen und religionspolitischen Verantwortung für den Religionsfrieden bewusst und sind gewillt, den interreligiösen Dialog auszuweiten und zu vertiefen. Sie sind zudem bestrebt, neu zugewanderten Religionsgemeinschaften zu helfen, sich in das geltende religionsrechtliche System des Staates einzufügen und sich in der Gesellschaft zu integrieren. Angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Entfremdung von Religion und einer gleichzeitigen religiösen Pluralisierung im Kontext von Migration sind die Kirchen herausgefordert, neue Dialogprozesse in Gang zu setzen und bereits laufende Dialoge kritisch zu reflektieren.

Die Reformierte Kirche des Kantons Zürich verfügt seit 2004 über die Stelle eines Beauftragten für den interreligiösen Dialog. Der Beauftragte trägt mit seiner Tätigkeit zum Aufbau und zur Pflege von konstruktiven Beziehungen mit nichtchristlichen Religionsgemeinschaften bei und setzt sich als vermittelnde Instanz für ein gedeihliches Mit- und Nebeneinander der im Kanton bestehenden Religionsgemeinschaften ein. Im Rahmen dieser Tätigkeit arbeitet er eng mit den bestehenden Akteuren der interreligiösen Plattformen zusammen. Im Kanton Zürich gibt es gegenwärtig drei solche Plattformen für den interreligiösen Dialog, die alle auf Initiativen von reformierten Pfarrpersonen zurückgehen:

Zürcher Institut für interreligiösen Dialog (ZIID)

Das Zürcher Institut für interreligiösen Dialog (1994 bis 2015 Zürcher Lehrhaus) geht auf die Initiative von Pfarrer Martin Cunz zurück. Das ZIID ist eine Bildungsinstitution, die sich dem interreligiösen Dialog zwischen Judentum, Christentum und Islam widmet. Die Arbeitsschwerpunkte des ZIID umfassen Wissensvermittlung, Aufklärungs-, Bildungs- und Sensibilisierungsarbeit, Beratungs- und Vernetzungstätigkeit sowie die Publikation von wissenschaftlichen Beiträgen.
https://www.ziid.ch/

Zürcher Forum der Religionen

Das Zürcher Forum der Religionen wurde 1997 auf Initiative von Pfarrer Peter Wittwer gegründet. Es versteht sich als Zusammenschluss religiöser Gemeinschaften und staatlicher Stellen im Kanton Zürich und fungiert als Bindeglied zwischen den fünf grossen Weltreligionen Hinduismus, Buddhismus, Judentum, Christentum und Islam. Das Zürcher Forum der Religionen setzt sich sowohl für den interreligiösen Dialog als auch für den Austausch zwischen religiösen und politischen Institutionen ein.
http://www.forum-der-religionen.ch/

Interreligiöser Runder Tisch im Kanton Zürich

Der Interreligiöse Runde Tisch wurde 2004 auf Initiative des damaligen Kirchenratspräsidenten Pfarrer Ruedi Reich gegründet. Beim Runden Tisch treffen sich die Leitungsverantwortlichen der im Kanton Zürich bestehenden Religionsgemeinschaften regelmässig zum Ideen- und Gedankenaustausch. Dabei werden aktuelle Probleme und Projekte diskutiert und vereinzelt auch öffentliche Stellungnahmen abgegeben. Im Hintergrund leistet der Interreligiöse Runde Tisch auf verschiedenen Ebenen Vermittlungsarbeit zwischen Religionsgemeinschaften und Behörden.
http://www.rundertisch.ch/

Den drei vorgestellten Gremien ist gemeinsam, dass sie der Abschottung von Religionsgemeinschaften untereinander entgegenwirken, sich für Religionsfreiheit und Religionsfrieden einsetzen und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt dienen. Im Weiteren setzen sie sich gegen jede Form der Diskriminierung ein, insbesondere gegen Diskriminierung auf Grund der Religionszugehörigkeit.

Interreligiöse Dialoge fördern – im Unterschied zu «einseitigen» religiösen Friedensinitiativen – die direkte Begegnung und den Austausch mit dem Anderen. Sie tragen dazu bei, Vertrauen zwischen Menschen aus verschiedenen Religionsgemeinschaften zu schaffen, Vorurteile abzubauen sowie ein besseres Verständnis füreinander und gegenseitigen Respekt zu entwickeln. Dialog bezeichnet dabei einerseits einen Prozess der Selbstwerdung; der Mensch wird erst in der Begegnung mit dem Anderen zu dem, was ihn einzigartig und besonders macht. Dieses Verständnis ist in Martin Bubers Worten «Der Mensch wird am Du zum Ich» ausgedrückt. Der Dialog ist aber auch ein Lernprozess über sich selbst; ein innerer Prozess der Selbsterkenntnis, in dem subjektive Perspektiven kritisch reflektiert und hinterfragt werden. Die Begegnung mit dem Anderen bietet die Gelegenheit, die Welt aus einer anderen Perspektive zu sehen, den eigenen Horizont zu erweitern und an dieser Erfahrung persönlich zu wachsen.

Der interreligiöse Dialog fördert aber auch die Solidarität zwischen Angehörigen der unterschiedlichen Religionsgemeinschaften und schafft in der Bevölkerung Verständnis und Vertrauen. Die Leitungsverantwortlichen der drei im Kanton Zürich bestehenden Plattformen für den interreligiösen Dialog treten in öffentlichen Stellungnahmen gegen gesellschaftliche Vorurteile und die daraus resultierende Diskriminierung von Bevölkerungsgruppen ein und tragen mit Grundlagen- und Positionspapieren, Handreichungen und Leitfäden zur Versachlichung von politisch und emotional aufgeladenen Debatten bei.

In diesem Sinne ist interreligiöser (und interkultureller) Dialog auch ein Instrument zur Prävention von Diskriminierung und Radikalisierung. Im «Bericht über die Massnahmen des Bundes gegen Antisemitismus in der Schweiz» der eidgenössischen Fachstelle für Rassismusbekämpfung (2017: 18) sowie im «Nationalen Aktionsplan zur Verhinderung und Bekämpfung von Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus» (2017: 17) wird explizit auf den interreligiösen Dialog als Instrument der Prävention hingewiesen. In Deutschland enthielt bereits der Koalitionsvertrag von 2005 einen Passus, der den Dialog zum präventionspolitischen Schlüsselbegriff erhob: «Ein interreligiöser und interkultureller Dialog ist nicht nur wichtiger Bestandteil von Integrationspolitik und politischer Bildung; er dient auch der Verhinderung und Bekämpfung von Rassismus, Antisemitismus und Extremismus». Aus den angeführten Dokumenten wird ersichtlich, dass Integrationspolitik in zunehmendem Masse über den interreligiösen Dialog geführt wird. Diese enge Verknüpfung von Integration und Dialog kann aber durchaus auch kritisch hinterfragt werden. Der Politik- und Sozialwissenschaftler Levent Tezcan (2006; vgl. Schmid 2010: 520-521) hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die zunehmend institutionalisierte Struktur des Dialogs und ihre strenge Ausrichtung auf die Integrationspolitik die Gefahr einer Fremdsteuerung des interreligiösen Dialogs durch die Politik berge; die Gefahr, «dass man das Entscheidende, das im Dialog impliziert ist, verfehlt: sich dem anderen aussetzen» (Tezcan 2006: 32). Gerade dies aber – sich dem anderen aussetzen, auf ihn zuzugehen, ihm zu begegnen, müssen Dialogprojekte leisten, sofern sie wirklich zum Abbau von Vorurteilen, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus beitragen wollen.

 

ℹ Marc Bundi ist verantwortlich für den Bereich «Beziehungen und interreligiöser Dialog» der Reformierten Kirche des Kantons Zürich. 


Literaturhinweise

Buber, Martin, Ich und Du. Berlin, 1922.

CDU Deutschlands/CSU Landesleitung /SPD Deutschlands(Hrsg.), Gemeinsam für Deutschland. Mit Mut und Menschlichkeit. Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD. Rheinbach, 2005.

Fachstelle für Rassismusbekämpfung (FRB)im Eidgenössischen Departement des Inneren, Bericht über die Massnahmen des Bundes gegen Antisemitismus in der Schweiz, 10. Oktober 2017.

Schmid, Hansjörg,Integration durch interreligiösen Dialog? Versuch einer Verhältnisbestimmung, In: Die Rolle der Religion in der Integrationspolitik. Die deutsche Islamdebatte, 2010.

Sicherheitsverbund Schweiz / Eidgenössisches Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport, Nationaler Aktionsplan zur Verhinderung und Bekämpfung von Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus, 4. Dezember 2017.

Tezcan, Levent, Interreligiöser Dialog und politische Religionen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 28/29, 2006.

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20.11.2024

Fischhof-Preis prämiert zwei Politiker:innen und eine Aktivistin

Bei der diesjährigen Verleihung des Fischhof-Preises wurden erstmals drei Persönlichkeiten gleichzeitig für ihren Einsatz gegen Rassismus und Antisemitismus ausgezeichnet. Die Preisträger:innen sind alt SP-Nationalrat Angelo Barrile, Mitte-Ständerätin Marianne Binder-Keller und Theologin Nicola Neider Ammann. Im Gespräch mit Moderator David Karasek reflektierten sie über ihre Arbeit, ihre Motivation sowie ihre Sorgen und Ängste – doch auch über ihre Hoffnungen, die trotz aller Herausforderungen spürbar waren.  

Alt Bundesrat Moritz Leuenberger sprach ebenfalls mit David Karasek und fragte selbstkritisch: «Bin ich vielleicht selbst antisemitisch, ohne es zu merken?» Er machte darauf aufmerksam, wie tief Rassismus und Antisemitismus in der Gesellschaft verankert sind und wie selten diese Mechanismen hinterfragt werden. Bewegende Laudationen von SP-Nationalrätin Priska Seiler Graf, alt SIG-Präsident Herbert Winter und alt Grünen-Nationalrätin Cécile Bühlmann würdigten die Leistungen der Preisträger:innen eindrücklich. 

Der Fischhof-Preis setzt auch 2024 ein starkes Zeichen gegen Diskriminierungen aller Art und bietet ein Gegennarrativ zu den Stimmen, die behaupten, das «Böse» sei unaufhaltsam. Die GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus und die GMS Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz vergeben den Fischhof-Preis, um denjenigen Personen eine Bühne zu geben, die sich für Gerechtigkeit, Demokratie und Inklusion einsetzen.

Eine fotografische Rückschau finden Sie hier.

Foto: Alain Picard

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