Analyse und Erläuterung zu Diskriminierungsfällen
Bericht als PDF herunterladenVorwort
Die Sichtbarkeit antisemitischer und rassistischer Taten und Hassreden nimmt in der Schweiz zu. Die brutale Messerattacke vom 2. März 2024 in Zürich-Selnau ist eine Konsequenz dieser Zuspitzung. Wir sind als Gesellschaft aufgefordert, zusammenzustehen und entschieden gegen jede Form von Diskriminierung und Hass vorzugehen.
Die Folgen des Angriffs der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 bedrohen nicht nur die Sicherheit unserer jüdischen Mitbürger:innen, sondern stellen unsere grundlegenden Werte wie Toleranz, Respekt und Vielfalt in Frage. Viele diskriminierende Einstellungen, die bis anhin verborgen waren, treten sichtbar und somit auch messbar hervor. In den vergangenen Monaten haben wir beobachtet, wie antisemitische Vorurteile, Stereotype und diskriminierende Hassrede immer offener und aggressiver geäussert werden, sei es in den sozialen Medien, an öffentlichen Versammlungen oder sogar in politischen Diskursen. Im Nachgang der Messerattacke war die Debatte nicht gefeit vor pauschalen Anschuldigungen an Muslima und Muslimen – dies aufgrund der radikalislamistischen Indoktrination und Motivation des Täters. Eine rechtspopulistische Wahlkampagne in den National- und Ständeratswahlen des Jahres 2023 demonstrierte auf alarmierende Weise, wie politische Rhetorik dazu beitragen kann, Vorurteile zu schüren und Minderheiten ins Visier zu nehmen. Die verantwortliche Partei griff monothematisch Fragen der Migrationspolitik auf und setzte auf Ängste und Vorurteile.
Die Schweiz hat eine lange Tradition des Respekts für Menschenrechte und der humanitären Handlung. Doch diese Werte stehen auf dem Spiel, wenn wir nicht energisch gegen jegliche Form von Diskriminierung, Rassismus und Antisemitismus vorgehen. Wenn sich die Wogen wieder glätten, wird sich der gesellschaftliche Fokus wieder auf andere, nicht minder wichtige Themen richten. Hierauf wird unser aller Verantwortung, Diskriminierungen zu identifizieren, benennen und zu bekämpfen, ins Zentrum rücken. Die Zivilgesellschaft ist mehr denn je gefordert, gesellschaftliches Bewusstsein und Resilienz gegen Intoleranz aufzubauen. Diese Aufgabe können die Behörden nicht restlos übernehmen.
Im diesjährigen Diskriminierungsbericht diskutieren wir mit Kultur- und Religionswissenschaftlerin Hannan Salamat über ihre Arbeit und Erfahrung im interreligiösen Dialog und in der interkulturellen Debatte. Von der innermuslimischen und innerjüdischen Debatte über die Herausforderungen der «Solidarität über Grenzen» hinweg bis hin zur Rolle der Bildung bei der Förderung von Toleranz und Verständnis – Hannan Salamat führt uns durch diese Fragen und gibt Impulse für einen konstruktiven Dialog und eine effektive Zusammenarbeit.
Chronologie
Die Chronologie der diskriminierenden Vorfälle, welche die GRA zusammen mit der Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz (GMS) fortlaufend führt, registrierte 2023 insgesamt 98 diskriminierende Vorfälle, die schweizweit von den Medien publiziert wurden.
Die Grundlage der Chronologie (https://www.gra.ch/chronologie) ist seit ihrer Entstehung 1992 der Tatbestand der Diskriminierungsstrafnorm Art. 261bis Strafgesetzbuch (StGB). Dieser wurde in den letzten Jahrzehnten sukzessiv erweitert. Zuletzt, um Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Orientierung zu erfassen. Dies erklärt den Namenswandel von «Rassismusbericht» zu «Diskriminierungsbericht». Damit die Chronologie zeitgemäss bleibt, wurden 2023 die Kategorien der Chronologie angepasst und überarbeitet.
Obwohl die in der Chronologie registrierten Fälle teilweise über den Geltungsbereich der Diskriminierungsstrafnorm hinausreichen, kann durch die neue Ausrichtung am Tatbestand eine höhere Verständlichkeit gewährleistet werden.
Die Chronologie hat keinerlei Anspruch auf statistische Vollständigkeit, deckt sie doch nur die in der Schweiz von den Medien publizierten Vorfälle ab, welche die Spitze des Eisbergs sind. Alle Vorfälle, welche der GRA direkt gemeldet werden, sind unter «Diskriminierende Meldungen» erfasst und werden alle an das Joint Venture «Beratungsnetzwerk für Rassismusopfer» für deren Statistik weitergeleitet. Das Joint Venture, bestehend aus «humanrights.ch» und der «EKR – Eidgenössische Kommission gegen Rassismus», gibt basierend auf ihrer Beratungsarbeit den jährlichen Bericht «Rassismusvorfälle aus der Beratungsarbeit» heraus (vgl. www.network-racism.ch und www.ekr.admin.ch). Aufgrund der Änderungen der Chronologie-Kategorien ist die Vergleichbarkeit zum Vorjahr nur eingeschränkt möglich. Im Vergleich zu 2022 weist die Chronologie 2023 eine Zunahme von diskriminierenden Vorfällen um mehr als die Hälfte auf. Grund dafür ist u.a. die Eskalation in Nahost seit Oktober 2023, die u.a. zu einer starken Zunahme antisemitischer Vorfälle führte (vgl. Antisemitismusbericht 2023).
Wir stellen eine generelle Zunahme der gesellschaftlichen Gewaltbereitschaft fest, die sich in einem gestiegenen Vorkommen verbaler Diskriminierung im öffentlichen Raum und Verbreiten diskriminierender Inhalte manifestiert.
Die Fachstelle für Rassismusbekämpfung (FRB) schätzt die Thematik der intersektionalen Diskriminierung in den letzten Jahren als stetig wichtiger ein.1 Mehrfachdiskriminierungen teilen wir im Diskriminierungsbericht wie bisher allen erfüllten Kategorien zu. Dies kann in der Chronologie zu Mehrfachnennungen führen.
«Drohungen, Belästigungen und Beleidigungen nehmen stark zu»
Zum Vorjahr drastisch erhöht haben sich ausserdem Drohungen, Belästigungen und Beleidigungen (2023: 34, 2022: 2).
Rechtsradikalismus/ Extremismus
Während die meisten Vorfälle generell keinem spezifischen sozialen Milieu zugeschrieben werden können, konnten etwas mehr als ein Viertel aller Vorfälle der Chronologie 2023 im rechtsradikalen bzw. -extremistischen Milieu verortet werden. Fast zwei Drittel der rechtsradikalen Vorfälle fanden in Form von Sachbeschädigungen und Sprayereien sowie rechtsextremen Aufmärschen, Auftritten und Zusammenkünften statt. Diese Erscheinungsformen führt auch der Bundesnachrichtendienst (NDB) in seinem Lagebericht 2023 auf, zusätzlich werden von den Autor:innen Plakataktionen erwähnt.2
«Die „Junge Tat“ bestimmt nach wie vor die Szene des Schweizer Rechtsextremismus»
Im Bereich des öffentlichen Rechtsextremismus steht nach wie vor die «Junge Tat» im Vordergrund. Sie instrumentalisiert medienwirksame und polarisierende Themen wie den Bau von Asylunterkünften für ihre Zwecke. Die Organisation bewegt sich geschickt in den sozialen Medien und betreibt so effiziente Mitgliederwerbung. Dieses Vorgehen nahmen im Wahlkampfjahr 2023 auch eine Nationalratskandidatin der Schweizerischen Volkspartei (SVP) und die Junge SVP Thurgau als Dienstleistung in Anspruch. Nach öffentlichem Aufschrei distanzierte sich die Partei jeweils von der «Jungen Tat». Eine drohende Unterwanderung der SVP kann jedoch aufgrund der aufgedeckten Fälle nicht ausgeschlossen werden.
Bei ihren eigenen Aktionen propagiert die «Junge Tat» den Hass auf Fremde und Minderheiten. Der NBD hebt unter den Inhalten insbesondere die Theorie des «grossen Austauschs» hervor.3 Hierbei handelt es sich um eine aus rechtsextremen Kreisen stammende Verschwörungserzählung, eine geheime «Elite» plane nach und nach einen Austausch der Bevölkerung im Westen, mit dem Ziel, die weisse Bevölkerung zu eliminieren.4 Ein grosser Teil rechtsextremen Gedankenguts dreht sich um die Verherrlichung des Nationalsozialismus, des Holocaust und Antisemitismus. Dies äussert sich insbesondere in Form von Sachbeschädigungen und Sprayereien, bei denen vorwiegend Hakenkreuze verwendet wurden.
Derzeit besteht bezüglich des Verwendens von nationalsozialistischen, rassendiskriminierenden, gewaltverherrlichenden und extremistischen Symbolen in der Öffentlichkeit eine Rechtsunsicherheit. Denn gemäss geltender Rechtsprechung bleibt straflos, wer mit einem menschenverachtenden Symbol «nur» die eigene Meinung äussert, nicht aber beabsichtigt, andere damit zu beeinflussen oder für eine bestimmte Ideologie zu werben. Die GRA Stiftung sowie der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) setzen sich deshalb für die Schaffung einer allgemeingültigen Norm ein, welche Symbole unter Strafe stellt, wenn diese für Ideologien stehen, die rassistisch konnotiert sind, Gewalt verherrlichen, elementare Menschenrechte missachten und bestimmten Menschen ihre Daseinsberechtigung absprechen. Dass eine gesetzliche Grundlage erfolgreich umgesetzt werden kann, zeigte auch der Bericht des Bundesamtes für Justiz mit Verweis auf unsere Nachbarländer auf.
Am Freitag, 13. Oktober 2023, hat die Kommission für Rechtsfragen des Ständerates (RK-S) für ein Verbot von extremistischen, insbesondere nationalsozialistischen, Symbolen, gestimmt. Gleichzeitig hat die RK-S eine eigene Kommissionsmotion verabschiedet, die den Bundesrat dazu verpflichten soll, eine gesetzliche Grundlage zu schaffen, welche «die öffentliche Verwendung, das öffentliche Tragen, das öffentliche Zeigen sowie das öffentliche Verbreiten von rassendiskriminierenden, gewaltverherrlichenden oder extremistischen, wie beispielsweise nationalsozialistischen Propagandamitteln, Zeichen und Symbolen (…) die auf die systematische Herabsetzung oder Verleumdung von Angehörigen einer Rasse, Ethnie oder Religion gerichtet ist, unter Strafe stellt». Der Bundesrat empfahl die Annahme durch den Ständerat und dieser folgte mit einer positiven Abstimmung im Dezember 2023. Die Motion wurde von der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates am 23. Februar 2024 ebenfalls angenommen. Nun kann eine Abstimmung im Nationalrat stattfinden. Folgt ein positives Abstimmungsresultat, wird der Bundesrat beauftragt, einen neuen Gesetzesartikel für ein Verbot von extremistischen Symbolen auszuarbeiten. Die Aufgabe der GRA wird in den kommenden beiden Jahren sein, die Diskussion für ein Verbot von extremistischen Symbolen voranzutreiben, so dass die Bestrebungen nicht zwischen politischen Agenden versickern.
Antisemitismus
Die GRA gibt gemeinsam mit dem SIG jährlich einen Antisemitismusbericht heraus, der einen Überblick über die registrierten antisemitischen Vorfälle und die aktuelle Lage in der Schweiz gibt.
2023 wurden in der deutsch-, der italienisch- und der rätoromanisch-sprachigen Schweiz 155 antisemitische Vorfälle registriert (exklusive Online). Das bedeutet eine massive und beispiellose Steigerung im Vergleich zum Vorjahr (2022: 57). Diese ist vor allem auf die Zeit nach dem Überfall der Hamas vom 7. Oktober 2023 zurückzuführen. Unter den Vorfällen waren 10 Tätlichkeiten, 47 Beschimpfungen, 42 Schmierereien, 38 Aussagen, 10 Plakate/Banner und 8 Auftritte. Online, vor allem in den sozialen Medien und den Kommentarspalten von Medien, wurden 975 Vorfälle registriert, dies bedeutet eine Steigerung um 14 Prozent gegenüber 2022 (853). Zusammengerechnet macht das für den Untersuchungszeitraum 1‘130 gemeldete und beobachtete Vorfälle (2022: 910).
Es kann festgestellt werden, dass sich 2023 der Antisemitismus in der Schweiz offline ausserordentlich manifestiert hat. Eine solche Häufung von Tätlichkeiten, Schmierereien, Beschimpfungen und antisemitischen Vorfällen bei Demonstrationen innert so kurzer Zeit ist beispiellos für unseren Untersuchungsraum. Auch der Inhalt der Schmierereien und Zuschriften hat mit Todesdrohungen und Schoah-Vernichtungsfantasien eine bisher noch nicht gekannte Heftigkeit erreicht. Dass der Antisemitismus in diesem allgemeinen Aufruhr letztlich 2024 in nackter Gewalt mündete, überrascht nicht.
«Antisemitismus ist eine Bedrohung, die sich nicht auf eine bestimmte politische Ausrichtung beschränkt.»
Während der Rechtsradikalismus oft als Hauptquelle für antisemitische Überzeugungen betrachtet wird, kann auch der Linksradikalismus diesen gefährlichen Ideologien Nährboden geben. Die Vorfälle im Jahr 2023 haben gezeigt, dass unter der Oberfläche ein verborgener Antisemitismus brodelt, der normalerweise keine mediale Präsenz erhält. Doch wenn ein Trigger wie die Eskalation durch die Hamas auftritt, tritt er offen zutage und äussert sich in bedrohlichen Angriffen, Hassreden und Schmierereien.
Kritik an Israel ist nicht per se antisemitisch, wird oft von Jüdinnen und Juden geäussert und auch das Recht auf freie Meinungsäusserung hat einen hohen Schutzwert. Demgegenüber haben unzählige Demonstrationen, Aufrufe und Sprayereien die Grenzen der freien Meinungsäusserung überschritten. Zum einen wurde auf Flyern zur «Intifada bis zum Sieg» aufgerufen, was einer offenen Verherrlichung der physischen Gewalt gegen Israel entspricht. Die Parole «From the River to the Sea» wiederum reproduzierte die Hamas-Rhetorik teils wissentlich, teils unwissentlich in der Schweiz. Die Hamas meint mit dem Spruch eindeutig die Vernichtung des jüdischen Staates. Es scheint, linke und islamische Akteur:innen kokettierten mit ihrer Nähe zu terroristischen Aussagen und der Ambiguität bezüglich ihrer Einstellung zu physischer Gewalt. Letztlich führen diese extremistischen Aussagen zu einer Spaltung der Gesellschaft und fördern eine Atmosphäre der Bedrohung für Jüdinnen und Juden in der Schweiz.
Der Vorwurf, dass Muslimas und Muslime antisemitisches Gedankengut in die Schweiz «importierten», wird andererseits von rechten und konservativen Kreisen verwendet, um diese Minderheiten zu stigmatisieren. Solche pauschalen Attribuierungen diskriminierenden Verhaltens an ganze Bevölkerungsgruppen sind an und in sich diskriminierend. Der Verdacht erhärtet sich, dass manche in der politischen Rechten Antisemitismus bekämpfen, um islam- und muslimfeindliche Botschaften zu verbreiten. Damit werden Minderheiten gegeneinander ausgespielt.
Antimuslimischer Rassismus
Lediglich in 4.1% aller Vorfälle der Chronologie 2023 liegen antimuslimische Motive vor. Antimuslimischer Rassismus ist dennoch ein ernstzunehmendes Problem der Schweiz. Gemäss dem Bericht über Rassismusvorfälle aus der Beratungsarbeit 2022 von EKR und Humanrights.ch ist antimuslimischer Rassismus das vierthäufigste Motiv für rassistische Diskriminierung in der Schweiz (nach Feindlichkeiten gegen Menschen aus dem arabischen Raum, Ausländer:innen- bzw. Fremdenfeindlichkeit und Anti-Schwarzen-Rassismus).5 Laut Umfragen des Bundesamts für Statistik BFS von 2022 ist der Bevölkerungsanteil, der findet, muslimische Personen seien wie alle anderen, etwas geringer (72.0%) als bei Schwarzen und jüdischen Personen (80.0%). Dies weise auf eine weniger positive Einstellung gegenüber muslimischen Personen hin.6 Laut diesen Umfragen sei auch die Ablehnung von Stereotypen gegenüber muslimischen Personen seltener.7 Dieses Bild spiegelt sich in den Vorfällen im Zusammenhang mit antimuslimischem Rassismus wider, die in der Chronologie 2023 von der GRA registriert wurden. Dabei handelte es sich um Vorfälle der Kategorien Drohungen, Beleidigungen und Verbreiten von antimuslimischen Inhalten.
Anti-Schwarzen-Rassismus
Fälle betreffend Anti-Schwarzen-Rassismus machen 11% aller in der Chronologie 2023 verzeichneten Vorfälle aus. Der grösste Teil davon sind Drohungen, Belästigungen und Beleidigungen (45.5%), die aufgrund der Hautfarbe oder zugeschriebener Ethnie erfolgten. In 27.3% der Fälle handelte es sich um sogenanntes «Blackfacing». So trat zum Beispiel beim Zunftball «Ball beim Böög» ein Mann mit schwarz angemaltem Gesicht, schwarzer Kraushaarperücke, Bastrock und einem grossen Knochen in der Hand auf. «Blackfacing» wird als rassistisch angesehen, da es die diskriminierenden Erfahrungen von Schwarzen Menschen untergräbt, während das eigene Vergnügen in den Vordergrund gestellt wird.8
LGBTQ-feindliche Diskriminierung
Diese Form der Diskriminierung erhält neu ihren eigenen Abschnitt im Diskriminierungsbericht. Im Gegensatz zum Wortlaut der Diskriminierungsstrafnorm Art. 261bis StGB werden hier nicht nur Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Orientierung, sondern jegliche LGBTQ-feindliche Diskriminierungen erfasst. 20.4% aller diskriminierenden Vorfälle der Chronologie 2023 sind LGBTQ-feindlich. Dabei richten sich 60% dieser Vorfälle gegen die sexuelle Orientierung und 40% gegen verschiedene Genderidentitäten. Am meisten äussern sich diese Diskriminierungen in Form von Beleidigungen, Belästigungen und Drohungen (45%), so auch im Hate Crime Bericht 2023 von LOS, PinkCross und TGNS.9 In 20% der Fälle handelte es sich um Sachbeschädigungen, grösstenteils um das Verbrennen von Regenbogenflaggen, welche für die LGBTQ-Community stehen. In 10% der Fälle handelte es sich um Angriffe auf die körperliche Integrität. Damit zählt die LGBTQ-feindliche Diskriminierung neben dem Antisemitismus zu der gewaltsamsten Diskriminierungsform in der Schweiz.
Diskriminierende Meldungen
Nebst den medialen Vorfällen, welche in der Chronologie 2023 aufgenommen wurden, wurden mehr als 90 Meldungen direkt über die Webseite, per E-Mail oder telefonisch bei der GRA Stiftung eingereicht. Die Erfassung von Vorfällen nimmt jeweils ein subjektives Erlebnis auf. Daher können wir den objektiven Wahrheitswert nicht belegen und haben folglich keinen Anspruch auf statistische Signifikanz.
Im Jahr 2023 wurde eine starke Zunahme von «diskriminierenden Meldungen» im Vergleich zum Vorjahr verzeichnet. Antisemitismus und Rassismus machten die häufigsten gemeldeten Diskriminierungsformen aus. In den Bereichen antimuslimischer Rassismus und LGBTQ-feindliche Diskriminierungen wurden nur wenige Vorfälle registriert. Dies bedeutet jedoch nicht, dass solche Vorfälle in unserer Gesellschaft nicht vorkamen. Vielmehr werden sie oft anderen Organisationen gemeldet, die spezialisiert sind auf die Erfassung und Behandlung solcher Fälle. Demnach widerspiegeln die von der GRA gesammelten Daten nicht das vollständige Ausmass dieser Probleme. Die Vorfälle sind häufig einfach in anderen Berichten und Statistiken erfasst. Besonders auffällig ist dabei, dass sich die gemeldeten Vorfälle überwiegend online, insbesondere im Internet und in den sozialen Medien, ereigneten (33%). Dieser Anstieg betrifft vor allem antisemitische Vorfälle, die sich vermehrt in virtuellen Umgebungen manifestierten. Die Zunahme von Diskriminierung und antisemitischen Äusserungen in Online-Plattformen weist auf die Dringlichkeit hin, effektive Massnahmen zur Sensibilisierung und Bekämpfung von Online-Diskriminierung zu ergreifen. Am zweithäufigsten fallen die gemeldeten Fälle im Bildungsbereich auf, hauptsächlich an Schulen, sowie im Lebensbereich «Nachbarschaft/Quartier». Ebenfalls konnte seit Oktober eine Zunahme der gemeldeten Fälle festgestellt werden. Am häufigsten wurden Vorfälle im Bereich «Direkte Diskriminierung/Herabsetzung» in Form von Drohungen, Belästigungen und Beleidigungen gemeldet. Die zweithäufigste Form war das «Verbreiten einer Ideologie».
Lebensbereiche
Hassrede im Internet (Hate Speech)
Anti-Schwarzen-Rassismus
Antisemitismus
Interview
Hannan Salamat
Hannan Salamat, Gründerin und Kuratorin, ist seit 2019 am Zürcher Institut für interreligiösen Dialog tätig. Sie berät Institutionen sowie die Stadt Zürich in den Bereichen Dialog- und Pluralitätskompetenz, Erinnerungskultur und jüdisch-muslimische Allianzen. Ihr aktuelles Projekt ist not_your_bubble.
Sie sind u.a. Kultur- und Religionswissenschaftlerin, Fachleiterin, Gründerin und Kuratorin. Was löst der Satzanfang «Wie beurteilen Sie als Muslima…» in Ihnen aus?
Als Menschen sind wir vielschichtige Individuen mit zahlreichen Facetten. Die offenkundige Tatsache, dass manchen Mitgliedern unserer Gesellschaft ihre Komplexität genommen wird, verdeutlicht das Ausmass der Stereotypisierung. Die fortwährende Kategorisierung von Menschen in Schubladen wie «Flüchtling», «Schwul», «Muslim» oder «Jude» geht mit bestimmten Erwartungen einher, wie sie sich entsprechend vorgegebenen Vorstellungen verhalten sollen. Insbesondere im Fall von Juden sowie Jüdinnen und Muslim:as bedeutet dies, sich ständig mit Themen wie Kopftuch, Beschneidung oder dem Nahost-Konflikt auseinandersetzen zu müssen. Dies führt dazu, dass Individuen in festgelegten Rollen verharren, die von der Dominanzkultur vorgegeben werden, und somit die vielfältigen Perspektiven, die unsere Gesellschaft bereichern könnten, marginalisiert werden.
Wenn Sie am innermuslimischen Dialog teilnehmen, welche Rolle wird Ihnen zugesprochen und wie definieren Sie Ihre eigene Rolle?
In meiner Arbeit mit verschiedenen Gemeinschaften ist es mir ein Anliegen, die eben beschriebenen Mechanismen für die betroffenen Personen sichtbar zu machen. Dies geschieht durch die Organisation von Veranstaltungen und Workshops, die zur Selbstermächtigung und Awareness beitragen. Der Fokus liegt dabei darauf, sichtbar zu machen, wie Rassismus in unserer Gesellschaft wirkt. Viele junge Menschen erkennen Rassismus nicht und neigen dazu, sich selbst die Schuld zu geben, wenn sie diskriminiert werden. Gleichzeitig geht es mir darum, diskriminierende Dynamiken innerhalb von Communities sichtbar zu machen. Jeder kann Opfer von Diskriminierung sein und gleichzeitig selbst diskriminieren. Niemand ist hiervon ausgenommen.
Was unterscheidet die innermuslimische und innerjüdische Debatte zu Diskriminierung von der jüdisch-muslimisch interkulturellen Debatte?
Natürlich kenne ich innerjüdische Debatten nur aus einer externen Perspektive und nicht aus dem Inneren heraus. Das, was ich von meinen jüdischen Freunden und Bekannten höre und teilweise beobachte, weist manchmal Ähnlichkeiten auf, aber weicht in einigen Punkten auch ab.
Abgesehen vom Vergleich, in welchem Verhältnis stehen diese inneren Debatten zur Öffentlichkeit?
Beispielsweise ist es eine Herausforderung, notwendige öffentliche Kritik an eigenen Gemeinschaften zu üben, um Probleme anzugehen, aber stets darauf bedacht zu sein, nicht unbeabsichtigt Rassismus und Antisemitismus zu reproduzieren. Marginalisierte Communities wie die jüdische und muslimische machen sich sehr verletzlich, wenn die interne Kritik nach aussen in die Dominanzgesellschaft getragen und dort verhandelt wird. Die Frage nach Zugehörigkeit zur Gemeinschaft gestaltet sich im Islam wiederum ganz anders als im Judentum. Jedoch beschäftigen beide Gemeinschaften Fragen zu Brüchen in der Biografie, dem Generationswechsel und Meinungspluralität.
Welche konkreten Massnahmen ergreifen Sie, um Solidarität über Grenzen hinweg zu fördern und gleichzeitig auf die spezifischen Bedürfnisse und Herausforderungen verschiedener diskriminierter Gruppen einzugehen?
Seit vielen Jahren engagiere ich mich in verschiedenen Allianzen, die das Konzept des Verbündet-Seins verfolgen, welches am Institut für Social Justice und Radical Diversity in Berlin entwickelt wurde. Mit dieser Idee bin ich durch die Essays des deutschen Lyrikers und Publizisten Max Czollek in Berührung gekommen. Verbündet-Sein kann als eine Form politischer Freundschaft verstanden werden, bei der die Anliegen anderer zu persönlichen Anliegen werden. Eine bewusste Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien und ein Verständnis für verschiedene Formen der Diskriminierung sind dabei von grundlegender Bedeutung. Durch diese Herangehensweise erweitert sich die Dekonstruktion von Diskriminierungen um den Faktor der Handlungsfähigkeit.
… Von der Theorie in die Praxis…
Genau. Denn hierbei tritt etwas Interessantes zutage: Die zugewiesene Position oder die eingenommene Rolle rückt in den Hintergrund, während das gemeinsame Ziel einer Gesellschaft, die gerechter für alle ist, in den Vordergrund tritt. Auf diese Weise gelingt es, aus den festgelegten Rollen auszubrechen. Dieser Ansatz kann auch im Kampf gegen Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus wirkmächtig sein und uns aus einer selektiven Solidarität, die zu viele Leerstellen hinterlässt, herausholen. In meinem neuen Projekt not_your_bubble wird es auch darum gehen, wie wir eine stärkere Verbundenheit jenseits unserer eigenen «Bubble» schaffen können.
Wie hat sich Ihre Arbeit seit dem 7. Oktober und der Eskalation des Nahostkonflikts geändert? Wo sehen Sie Ansätze, um der Polarisierung entgegenzutreten?
Das Zürcher Institut für interreligiösen Dialog hat sich seit vielen Jahren auf dem Gebiet der Dialogkompetenz etabliert. Seit dem 7. Oktober 2023 haben wir vermehrt Anfragen erhalten, sowohl von Lehrkräften, Pädagogischen Hochschulen, Verwaltungsstellen, Studienstiftungen als auch von Medien und Unternehmen aber auch Privatpersonen. Insbesondere bei schulbezogenen Anfragen ging es vor allem darum, wie man mit Meinungsverschiedenheiten zu globalen Konflikten umgeht und Antisemitismus sowie antimuslimischen Rassismus erkennt. Hier konnten wir aufgrund unserer langjährigen Erfahrung rasch Unterstützung bieten.
Wo stösst ihr auf Grenzen eures Wirkens?
Wir können nicht alle Anfrage annehmen, da wir nicht genug personelle Ressourcen haben. Interessant ist aber, dass viele mit der Erwartung zu uns kommen, dass wir den Nahostkonflikt erklären können. Meine Erfahrung zeigt zudem, dass öffentliche jüdisch-muslimische Dialogveranstaltungen ganz generell oft von Fragen zum Nahostkonflikt begleitet werden, unabhängig von unserer direkten Betroffenheit, persönlichen Interessen oder Fachkenntnisse. Dies verdeutlicht, dass wir nicht nur als einzelne Gemeinschaften in Schubladen gesteckt werden, sondern auch in der Kombination.
Welche Rolle spielt Bildung Ihrer Meinung nach bei der Bekämpfung von Vorurteilen und der Förderung von Toleranz und Verständnis zwischen verschiedenen Gruppen, insbesondere in Bezug auf den Nahostkonflikt?
In den vergangenen Monaten hat sich besonders deutlich gezeigt, dass es an politischer Bildungsarbeit für junge Menschen mangelt, die sich mit globalen Konflikten, der Migrationsgesellschaft sowie Rassismus und Antisemitismus auseinandersetzt. Diese Verantwortung kann nicht allein den Schulen übertragen werden. Obwohl Begegnungen in Moscheen oder Synagogen wichtig und notwendig sind, darf die Bekämpfung von Diskriminierung nicht allein davon abhängen, ob man eine bestimmte Kultur oder Religion kennt. So sollte Demokratie nicht funktionieren. Vor allem darf diese Aufgabe nicht den Betroffenen überlassen werden, insbesondere nicht den bereits marginalisierten Gemeinschaften, die ohnehin mit Ressourcenmangel zu kämpfen haben. Digitalkompetenzen spielen ebenfalls eine bedeutende Rolle in dieser politischen Bildungsarbeit. Dazu gehören das Erkennen von Fake News, die Einordnung von Bildern und generell die Fähigkeit, kritisch und reflektiert mit digitalen Informationen umzugehen. Meiner Ansicht nach ist eine verstärkte staatliche und privatwirtschaftliche Förderung dringend notwendig, um eine umfassende intersektionale und interdisziplinäre Bildungsarbeit zu ermöglichen.
Unsere Stiftung sieht sich in ihrer Watchdog-Funktion von linken und muslimischen Organisationen vermehrt dem Vorwurf des Rassismus ausgesetzt, wenn sie gegen antisemitische Organisationen, Veranstaltungen oder Parolen im Rahmen der Proteste gegen Israel vorgeht. Welche Rahmenbedingungen sind nötig, dass die Diskussion über Antisemitismus im Kontext mit Israel versachlicht werden kann?
Die jüngsten Ereignisse haben einmal mehr verdeutlicht, dass der Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus Hand in Hand gehen muss. Wie bereits erwähnt, sind wir nicht nur von Diskriminierung betroffen, sondern können auch selbst diskriminierend handeln. Mit der Gründung der GRA als Reaktion auf die rassistische Politik Schwarzenbachs hat Sigi Feigel Pionierarbeit geleistet, indem er das Bewusstsein schärfte, dass man diese Formen der Diskriminierung nicht isoliert voneinander betrachten kann. Seither hat sich viel getan – auch in der Antirassismusarbeit. In der praktischen Arbeit ist es essenziell, dass die GRA ihren Gründungsgedanken nicht aus den Augen verliert und konsequent danach handelt, um der Sache gerecht zu werden. Ich möchte an die GRA und auch an alle anderen Organisationen, die sich für eine gerechtere Schweiz einsetzen, appellieren: Wir müssen uns stärker vernetzen, enger zusammenarbeiten und verstärkt Allianzen schmieden. Dass diese Arbeit auch mit Konflikten einhergehen kann, sollte uns nicht davon abschrecken. Nur so können wir unsere Leerstellen erkennen und intersektional arbeiten – sei es im Bereich der feministischen oder antirassistischen Organisationen. Die GRA verfügt darüber hinaus als Stiftung über eine gute Ausgangsposition, um in der politischen Bildungsarbeit, Schulen mit Workshops und Projektwochen zu unterstützen.
Literaturverzeichnis
Bundesamt für Statistik, Resultate der Erhebung zum Zusammenleben in der Schweiz 2022, Einstellungen gegenüber bestimmten Personengruppen, Bern 2023.
Eidgenössische Kommission gegen Rassismus, Medienmitteilung – Auswertungsbericht 2021: Rassismusvorfälle aus der Beratungsarbeit, Bern 2022.
Fachstelle für Rassismusbekämpfung, Rassismus in der Schweiz: Zahlen, Fakten, Handlungsbedarf, Bern 2024.
GRA Stiftung unter Mitarbeit von Dr. phil. Darja Pisetzki, ehem. Projektmitarbeiterin der GRA, Glossar: Bevölkerungsaustausch und Blackfacing, Zürich 2021.
Humanrights.ch, https://www.humanrights.ch/de/news/rassismus-bildungssystem-bildungsgerechtigkeit-repraesentation-teilhabe
Los, Pink Cross und TGNS, Hate Crime Bericht 2023, Bern 2023.
NDB, Sicherheit Schweiz 2023, Lagebericht des NDB, Bern 2023.
Impressum
Herausgeber
Dr. Zsolt Balkanyi-Guery, Präsident des Stiftungsrats
Philip Bessermann, Geschäftsleiter
Daria Zanni, Projektleiterin
Mia Mengel, Wissenschaftliche Mitarbeiterin
GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus
Postfach
CH-8027 Zürich
GMS Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz
Postfach
CH-8027 Zürich
Übersetzungen FR und Korrektorat
Rachel Posnanski
Grafische Gestaltung
Digitalists
Vorfall melden
Wurden Sie Zeug:innen eines rassistischen oder antisemitischen Vorfalls oder wurden Sie selbst rassistisch oder antisemitisch beleidigt oder angegriffen?
Fischhof-Preis prämiert zwei Politiker:innen und eine Aktivistin
Bei der diesjährigen Verleihung des Fischhof-Preises wurden erstmals drei Persönlichkeiten gleichzeitig für ihren Einsatz gegen Rassismus und Antisemitismus ausgezeichnet. Die Preisträger:innen sind alt SP-Nationalrat Angelo Barrile, Mitte-Ständerätin Marianne Binder-Keller und Theologin Nicola Neider Ammann. Im Gespräch mit Moderator David Karasek reflektierten sie über ihre Arbeit, ihre Motivation sowie ihre Sorgen und Ängste – doch auch über ihre Hoffnungen, die trotz aller Herausforderungen spürbar waren.
Alt Bundesrat Moritz Leuenberger sprach ebenfalls mit David Karasek und fragte selbstkritisch: «Bin ich vielleicht selbst antisemitisch, ohne es zu merken?» Er machte darauf aufmerksam, wie tief Rassismus und Antisemitismus in der Gesellschaft verankert sind und wie selten diese Mechanismen hinterfragt werden. Bewegende Laudationen von SP-Nationalrätin Priska Seiler Graf, alt SIG-Präsident Herbert Winter und alt Grünen-Nationalrätin Cécile Bühlmann würdigten die Leistungen der Preisträger:innen eindrücklich.
Der Fischhof-Preis setzt auch 2024 ein starkes Zeichen gegen Diskriminierungen aller Art und bietet ein Gegennarrativ zu den Stimmen, die behaupten, das «Böse» sei unaufhaltsam. Die GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus und die GMS Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz vergeben den Fischhof-Preis, um denjenigen Personen eine Bühne zu geben, die sich für Gerechtigkeit, Demokratie und Inklusion einsetzen.
Eine fotografische Rückschau finden Sie hier.
Foto: Alain Picard