Neues der GRA

03.07.2020

Schweizer Jüdinnen und Juden fühlen sich zunehmend bedroht

Belästigungen, Diskriminierung und Angst gehören für viele Menschen jüdischen Glaubens zum Alltag. Am häufigsten erleben sie antisemitische Übergriffe im Internet. Dies zeigt eine landesweite Befragung durch die ZHAW in Zusammenarbeit mit der GRA.

Im vergangenen Jahr kam es weltweit zu mehreren antisemitisch motivierten Gewalttaten mit Todesfolge. Ebenso stellte eine Studie der European Union Agency for Fundamental Rights (FRA) fest, dass generell Übergriffe auf Menschen jüdischen Glaubens in Europa zunehmen. Vor diesem Hintergrund untersuchte das Departement Soziale Arbeit der ZHAW in einer schweizweiten Befragung nun erstmals, wie Jüdinnen und Juden hierzulande Antisemitismus erfahren und wahrnehmen. Insgesamt haben 487 Personen an der Umfrage teilgenommen. Diese entstand in Zusammenarbeit mit der GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus. Die Umfrage wurde mehrheitlich online durchgeführt. Die Schweizer Studie lehnt sich eng an jene der FRA aus dem Jahr 2018 an, um Vergleichsdaten zu erhalten.

Opfer von Belästigung und Diskriminierung

Rund die Hälfte der Befragten gab an, in den letzten fünf Jahren real oder online antisemitisch belästigt worden zu sein. Fast drei Viertel gehen davon aus, dass Antisemitismus ein zunehmendes Problem darstellt. «Diese Zahlen zeigen deutlich, dass Antisemitismus in der Schweiz existiert und den Alltag der hier lebenden Jüdinnen und Juden prägt», sagt Studienleiter und Leiter des ZHAW-Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention, Dirk Baier.

Weitaus am häufigsten erfahren Menschen jüdischen Glaubens Antisemitismus im Internet und dort in den Sozialen Medien. Fast neun von zehn Befragten sind der Meinung, dass Antisemitismus in diesem Bereich zugenommen hat, und fast 50 Prozent der Befragten wurden Zeuge davon, wie Jüdinnen und Juden online beleidigt oder bedroht wurden. Physische Gewalt wie Körperverletzungen oder Tätlichkeiten erfuhren sie hingegen selten. Am häufigsten berichten streng-orthodoxe Jüdinnen und Juden davon, übergriffe erlebt zu haben: Nahezu alle wurden in den vergangenen fünf Jahren Opfer einer Form von Belästigung. Ein Sechstel von ihnen berichtet ausserdem von Sachbeschädigungen und Gewalterfahrungen.

Was antisemitische Diskriminierung im Alltag angeht, berichteten 16,2 Prozent von mindestens einem Erlebnis in den letzten 12 Monaten. Vor allem in drei Bereichen zeigen sich erhöhte Diskriminierungswerte: an Bildungseinrichtungen wie Schulen und Hochschulen, am Arbeitsplatz und bei der Wohnungssuche. Dabei geht es weniger um Einschränkungen des religiösen Lebens oder religiöser Praktiken als um subtilere Formen der Diskriminierung. «Der Bildungs- und der Arbeitsbereich stellen damit wichtige Felder zukünftiger Präventionsarbeit dar», ist Dirk Baier überzeugt. «Besonders nachhaltig und verletzend wirken diskriminierende Äusserungen auf die Betroffenen, wenn sie subtil daherkommen, etwa in alltäglichen Situationen», so Dominic Pugatsch, Geschäftsführer der GRA.

Sicherheitsgefühl schwindet

Die Erfahrungen, welche sich in der Umfrage zeigen, wirken sich auf das Sicherheitsgefühl der jüdischen Bevölkerung aus. So meidet fast jeder dritte Befragte zumindest manchmal jüdische Veranstaltungen beziehungsweise Stätten oder andere Örtlichkeiten in der Heimatstadt, weil er oder sie sich auf dem Weg dorthin nicht sicher fühlt. Rund ein Fünftel fürchtet sich davor, in den kommenden 12 Monaten im öffentlichen Raum verbal angegriffen zu werden. Jüngere Jüdinnen und Juden (16- bis 44-jährig) und solche mit einer starken jüdischen Identität fürchten sich häufiger und zeigen häufiger Vermeidungsverhalten als andere Altersgruppen oder liberaler eingestellte Befragte.

Fast zwei Drittel sprachen sich dafür aus, dass die Behörden zukünftig aufmerksamer die Sicherheitsbedürfnisse der jüdischen Bevölkerung beachten sollten. «Die Politik sollte daher noch stärker den Dialog mit den jüdischen Gemeinden suchen und rasch Lösungen anbieten. Das belegen die Ergebnisse deutlich», sagt Dirk Baier.

Häufiger Verzicht auf Anzeige

Nur rund ein Drittel der Befragten gaben an, dass sie das Erleben beleidigender oder bedrohlicher Kommentare der Polizei oder einer anderen Stelle gemeldet hätten. Das bedeutet, dass zwei Drittel dieser Taten im Dunkeln bleiben; bei Sachbeschädigungen oder physischer Gewalt sind die Melderaten deutlich höher, die Dunkelziffer entsprechend kleiner.

Ein spezifischer Tätertypus kann nicht identifiziert werden, teilweise ist die Täterschaft den Opfern auch unbekannt. «Anhand der Befunde kann nicht gefolgert werden, dass nur Muslime oder politisch rechtsgesinnte Personen Antisemitismus ausführen. Dieser scheint stattdessen eher aus der Mitte der Gesellschaft zu kommen», sagt Dirk Baier.

 

Hier zum Bericht

Link zur ZHAW-Berichts-Internetseite

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03.07.2020

Wir stehen erst am Anfang

von Dominic Pugatsch

Kürzlich wurde ich in einer Medienanfrage in Zusammenhang mit der Arena-Sendung vom 19. Juni 2020 folgendes gefragt: Ist es Ihrer Meinung nach sinnvoll, bei einer Rassismus-Debatte in der Arena nur schwarze Menschen zu Wort kommen zu lassen?

Die NZZ am Sonntag schrieb am 21. Juni auf ihrem Titelblatt folgendes: «Ob Rassismus oder Gender: Heute bezieht jeder sofort Stellung und haut anderen seine moralische Überlegenheit um die Ohren. Der Schreibende selbst bezeichnete Mohrenkopfproduzent-Dubler in einem kürzlich ausgestrahlten «Talktäglich» auf «Tele Züri» als «Ewiggestrigen» und musste sich dafür Kritik anhören. Es stellt sich offenbar die Frage: Was darf man heute überhaupt noch sagen? Wird einem jetzt mit dem verbalen «Zweihänder» das eigene Wort verboten? Mit anderen Worten: Wie sieht eine ausgewogene Diskussion zum Thema Rassismus aus? Hier einige Gedanken dazu.

Zunächst wärmstens empfohlen sei die Lektüre des GRA-Glossars. Dort finden sich viele sogenannte «belastete» Begriffe, wie z.B. «Judenschule», «Nacht und Nebelaktion» sowie u.a. auch das N-Wort oder «Mohr/Mohrenkopf». Die dortigen Erläuterungen mögen den Leserinnen und Lesern einen ersten Anhaltspunkt liefern oder zumindest zur weiteren inhaltlichen Auseinandersetzung anregen.

Zielführend erscheint daneben auch die Vorgehensweise, welche die abtretende Ombudsfrau der Stadt Zürich – Claudia Kaufmann – in einem Interview mit der NZZ vom 21. Juni exemplarisch vorlebt. Als eine der ersten Personen hat Claudia Kaufmann in der Schweiz das Phänomen «Racial Profiling» thematisiert. Sie hat in ihrer Funktion jedes Jahr Hunderte von Vermittlungen durchgeführt. Ihr Engagement für Rechtsstaatlichkeit und Fairness stösst weit über Zürich hinaus auf grosse Anerkennung; sie hat den Nanny-und-Erich-Fischhof-Preis 2011 für ihren Einsatz gegen Rassismus und gegen Diskriminierung jeglicher Art erhalten und vor zwei Jahren honorierte die Universität Zürich ihre wissenschaftlichen Beiträge und ihre Umsetzungsarbeit zu Fragen der Gleichstellung und Nichtdiskriminierung mit der Ehrendoktorwürde. Auf Grundrechtseinschränkungen während der Corona-Krise angesprochen – etwa im Zusammenhang mit der Situation in den Alters- und Pflegezentren – antwortete sie folgendermassen:

«Zunächst hörten wir einfach zu und nahmen Anteil. Ich tauschte mich mit der Direktorin der Alterszentren regelmässig über neue Massnahmen und Lockerungsmöglichkeiten aus. So konnte ich jeweils die nächsten Schritte kommunizieren. Auf die Betroffenen wirkte dies beruhigend und zeigte Perspektiven auf.» Und weiter: «… es gelang mir in der Regel, ihr Verständnis für eine andere Perspektive zu wecken und die verschiedenen Interessen wahrzunehmen. Solche Perspektivenwechsel aufzuzeigen, ist eine unserer Kernaufgaben.»

Die Kernbotschaft ist somit der Perspektivenwechsel. Es geht in der aktuellen Debatte gar nicht darum, was darf ich wann, wie denn überhaupt noch sagen, sondern: höre ich hin, was die Betroffenen sagen? Was sagen sie denn überhaupt? Wie wirken diskriminierende Worte und Handlungen im Alltag auf die Betroffenen? Zuerst einfach einmal hinhören und verstehen, was Minderheiten belastet, wie denn Worte wie «Mohrenkopf», «laut wie in einer Judenschule» oder «ihr Muslime» auf diese wirken. Wenn wir aufmerksam zuhören, Anteil nehmen und dann reflektieren, ja dann ergibt sich der eigene Sprachgebrauch und die gezielte Wortwahl von allein. Aggressivität innerhalb einer Debatte nimmt ab und die Sensibilität gegenüber den Mitmenschen wächst. Michael Bischof, stellvertretender Leiter der Integrationsstelle Zürich und Autor im Rassismusbericht von GRA und GMS schrieb dazu im Berichtsjahr 2018 folgendes:

«Diskussionen um Rassismus und Antisemitismus werden im beruflichen und privaten Alltag oft erstaunlich faktenfrei geführt. Wer Rassismus thematisiert, stösst auf Distanzierung und Abwehr und muss sich anhören, er oder sie übertreibe und stütze sich letztlich auf subjektive Empfindungen. Zu bedenken ist allerdings, dass Rassismus immer auch ein subjektives, emotionales Erlebnis ist. Ist nicht eines der Anliegen des Anti-Rassismus, Menschen in ihrer Verletzlichkeit und Empfindsamkeit zu achten und zu schützen? Zudem: Woher nehmen diejenigen, die eine zu hohe Empfindlichkeit reklamieren eigentlich ihre Gewissheit? Wäre nicht vielmehr ein Mangel an Feingefühl zu beklagen?»

Später fährt er fort: «… Diskriminierungserfahrungen schwarzer Menschen vergegenwärtigen grauenhafte Traditionen wie Sklaverei, Kolonialismus und die fortwährende Geschichte des antischwarzen Rassismus. Sie müssen entsprechend vor dieser Folie bewertet werden. Wenn sich Kinder und Männer der jüdisch-orthodoxen Gemeinschaft in Zürich-Wiedikon vor einem Verfolger fürchten, ist das vor dem Hintergrund antisemitischer Gewalttaten und Verbrechen zu beurteilen. Ungeachtet der Tatsache, ob der stark alkoholisierte Verfolger von antisemitischen Motiven getrieben oder «bloss betrunken» war. Für die Betroffenen bleibt es – «Alkohol hin oder her» – eine Erfahrung mit Bezug zu ihrem Jüdischsein. Diese Betroffenenperspektive sollte bei der Bewertung anerkannt und entsprechend gewichtet werden

Als ich diese Woche operiert wurde, erwischte der Anästhesieassistent meine Vene nicht auf Anhieb und ärgerte sich bitterlich: «So blöd aber auch, sowas darf mir doch nicht passieren!» Während mir der Narkoseschlauch aufgelegt wurde, dachte ich über seine Worte nach. Ich fragte: «Was meinen Sie damit, woher kommen Sie denn?» «Weil ich doch Secondo bin – wir müssen doppelt und dreifach so gut sein, das sage ich auch meinen Kindern!» Ich bat das Ärzteteam mit dem Ritt ins Nirvana noch kurz zu warten und nahm den Narkoseschlauch ab. Was ich dem Herrn sagte? Ich erläuterte ihm in aller Kürze, was ich in diesem Beitrag ausgeführt habe; also ermutigte ihn, sich mit Stolz am Perspektivenwechsel zu beteiligen, sich nicht zu ducken, sondern hörbar zu machen.

Insofern ist auch die aktuelle Rassismus-Debatte hierzulande durchaus wünschenswert; nicht im Sinne eines sprachpolizeilichen Hickhacks, sondern zur Steigerung der Sensibilität gegenüber den Mitmenschen. Wir stehen erst am Anfang. Schon ein kleiner Perspektivenwechsel genügt!

 

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Zwei Briefcouverts, die übereinander liegen und die Logos der GRA und der GMS zeigen.
20.06.2024

Drei Preisträger:innen erhalten den Fischhof-Preis 2024

Die Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA) und die Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz (GMS), unterstützt vom Sigi und Evi Feigel-Fonds, ehren mit der Verleihung des Nanny und Erich-Fischhofpreises drei Persönlichkeiten, die sich kontinuierlich gegen Diskriminierung und für den Schutz von Minderheiten einsetzen.

Die Preisträger:innen der diesjährigen Preisverleihung:

Mitte-Ständerätin Marianne Binder-Keller setzt sich seit Jahren auf der politischen Ebene gegen Antisemitismus und zum Wohl der jüdischen Gemeinschaft ein. Geprägt wurde sie durch das geistige Erbe ihrer Grossmutter Paulina Borner, die im Zweiten Weltkrieg jüdischen Geflüchteten in der «Rosenlaube» in Baden Schutz bot. Ihre Mutter, die Schriftstellerin Rosemarie Keller, schrieb darüber ihren prägenden Roman «Die Wirtin». Binder war massgeblich daran beteiligt, das Verbot von Nazi-Symbolen politisch durchzusetzen. In der schweizerischen Aussenpolitik steht sie für die Einhaltung der Menschenrechte.

Alt-SP-Nationalrat Angelo Barrile kämpfte unermüdlich für Gleichheit und Inklusion in der Gesellschaft. Während seiner Amtszeit initiierte er eine parlamentarische Initiative zum Verbot der öffentlichen Verwendung von extremistischen Symbolen und setzte sich auch für die Entwicklung eines nationalen Aktionsplans gegen LGBTQ-feindliche Hassverbrechen ein. Vehement kämpfte er dafür, dass die Rassismus-Strafnorm um die sexuelle Orientierung erweitert wurde.

Nicola Neider Ammann ist Theologin und Leiterin des Bereichs Migration und Integration der katholischen Kirche Stadt Luzern. Sie verlor im Holocaust jüdische Verwandte väterlicherseits. Heute bietet sie Zugewanderten, darunter Geflüchteten, Migrant:innen und Sans-Papiers tagtäglich Schutz und Unterstützung. Zudem setzt sie sich auf zivilgesellschaftlich-politischer Ebene für deren Integration ein. Sie wirkte an der Migrationscharta mit, unterstützte das No-Frontex-Bündnis und engagiert sich seit der Gründung als Präsidentin der Sans-Papiers Beratungsstelle Luzern.

Der Nanny und Erich Fischhof-Preis in Höhe von CHF 50’000.- wird an Persönlichkeiten oder Institutionen verliehen, die sich in der Bekämpfung von Rassismus im Allgemeinen und Antisemitismus im Besonderen in der Schweiz verdient gemacht haben. Das Preisgeld wird paritätisch unter den Nominierten aufgeteilt.

Die Preisverleihung findet im November 2024 in Zürich statt.

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