Neues der GRA
Neue Podcastfolge: Feminismus 2.0
Erinnerungskultur im 21. Jahrhundert
Verschwörungstheorien in Zeiten gesellschaftlicher Krisen: Wenn Esoterik und Rechtspopulismus aufeinandertreffen
Seit einigen Jahren forsche ich zum Thema «Alternativmedien», worunter Nachrichtenmedien zu verstehen sind, die sich gegen die politische und mediale Öffentlichkeit, den so genannten «Mainstream» richten. Als gegenöffentliche Gruppierungen erlangten sie in den letzten Jahren vor allem im Zusammenhang mit Begriffen wie «Fake News» bzw. «Desinformation» oder «Verschwörung» öffentliche Aufmerksamkeit und werden als ernst zu nehmende Gefahr für die soziale Ordnung respektive Demokratie betrachtet. Die absichtliche Verbreitung falscher Nachrichten («Fake News») evoziert schliesslich eine zunehmende Polarisierung der Gesellschaft, die demokratische Willensbildung ist gefährdet und das Vertrauen in Institutionen (wie Politik oder Medien) wird brüchig.
Verschwörungstheorien sind in diesem Zusammenhang jedoch differenziert zu betrachten. Verschwörungstheorien vereinen im Kern die Annahme, dass gesellschaftliche Ereignisse miteinander verwoben sind und im Geheimen von – meist elitären – Gruppen gesteuert werden; nichts passiert zufällig. Verschwörungstheorien existieren seit jeher, so wurden im Mittelalter Hexen als vermeintliche Verursacherinnen von Naturkatastrophen verfolgt. In den vergangenen Jahren sammelten sich beispielsweise nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 zahlreiche Verschwörungstheorien, wonach das Attentat geplant gewesen wäre, oder auch im Zuge der Flüchtlingsbewegungen 2015, als u. a. antisemitische Theorien verbreitet wurden, wonach Juden die Migrationsbewegungen bewusst steuern würden.
In besonderem Masse mit dem Thema Verschwörung konfrontiert wurden wir jüngst im Zuge des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie. Bill Gates, George Soros und weitere elitäre (häufig jüdische) Personen würden eine neue Weltordnung planen, das Virus solle in einem Labor gezüchtet worden sein, mit dem Ziel einer Zwangsimpfung und Überwachung der Gesellschaft durch injizierte Mikrochips – um nur beispielhafte Mythen aufzuzählen.
In Abgrenzung zur absichtlichen Verbreitung von Falschinformationen ist im Fall von Verschwörungstheorien häufig nicht empirisch belegt, ob die Theorie tatsächlich wahr oder falsch ist. Insofern existieren auch Theorien, die sich im Nachhinein als wahr entpuppten, wie beispielsweise die Watergate-Affäre in den 1970er Jahren. Dies ist allerdings eine weniger Ausnahmen.
Die Verbreiter_innen von Verschwörungstheorien sind indes häufig davon überzeugt, dass ihre Theorien der Wahrheit entsprechen und erachten es als ihre gesellschaftliche Aufklärungsfunktion, möglichst viele davon zu überzeugen. Gefahren für die demokratische Ordnung ergeben sich jedoch insbesondere dann, wenn Gegenbeweise existieren, die Theorien also empirisch falsch sind, und ein rationaler Diskurs darüber nicht mehr möglich ist; wenn Verschwörungstheorien eine Polarisierung der Gesellschaft befördern, indem z. B. Gruppen diffamiert werden – beispielsweise Jüdinnen und Juden.
Länderübergreifende Vernetzung
In den vergangenen Jahren erlebten wir einen gefühlten «Aufschwung» verschwörungstheoretischer Narrative. Dies hat mehrere Gründe: Einerseits wurde es durch die Etablierung von Social-Media-Plattformen für Lai_innen möglich, Inhalte – wie auch gegenöffentliche Meinungen – ohne Überprüfung zu verbreiten. Auch das Teilen von verschwörungstheoretischen Beiträgen, z.B. über Videoformate, wurde dadurch um vieles einfacher. Die algorithmische Selektion durch die Plattformen und damit einhergehende «Vorschläge» von Beiträgen, die den eigenen Interessen entsprechen, können dabei zu einer Art Sogwirkung dieser skandalisierenden und emotionalisierenden Beiträge führen. Andererseits befördern gesellschaftliche Krisen einen Aufschwung alternativer Deutungsmuster, wie beispielsweise im Zuge der COVID-19-Pandemie deutlich wurde. Krisenphasen sind geprägt von Gefühlen der Unsicherheit und Ängsten des Kontrollverlustes, offizielle Statements der Regierungen werden fallweise nicht mehr als zufriedenstellend betrachtet (van Prooijen & Douglas, 2017). Bürger_innen suchen nach Antworten für komplexe Sachverhalte. Die Bereitschaft, für alternative Narrative – beispielsweise in Form von Verschwörungstheorien – empfänglich zu werden, steigt: «Schuldige» hinter der Krise werden gesucht. Gerade diese Suche nach «Sündenböcken» ist für moderne Gesellschaften besonders problematisch. Es etabliert sich eine «Gut»- vs. «Böse»-Semantik, Gesellschaftsgruppen werden diskreditiert.
Inwieweit Verschwörungstheorien in der Schweiz deutungsmächtig sind, ist schwierig zu beurteilen. Vielmehr handelt es sich um einzelne Gruppen innerhalb der Gesellschaft, die affin gegenüber solcher Verschwörungsmythen sind und sich – beispielsweise mithilfe digitaler Möglichkeiten – miteinander vernetzen. Es ist davon auszugehen, dass es sich dabei um einen kleineren Ausschnitt der Gesellschaft handelt, der allerdings, z. B. mittels Protestaktionen und Demonstrationen, «am lautesten schreit» und somit auf mediale Resonanz stösst. Nicht zu unterschätzen ist dennoch die länderübergreifende Vernetzung jener Gruppierungen, sei es über Websites oder Social-Media-Plattformen. Schweizer Websites mit verschwörungstheoretischem Charakter lassen sich zwar an einer Hand abzählen – so beispielsweise die Seite Uncut-News mit über 800’000 monatlichen Zugriffen –, im Ländervergleich mehren sich einschlägige Seiten beispielsweise aus Deutschland jedoch beachtlich – und werden mitunter von Schweizerinnen und Schweizern häufig genutzt. So z.B. die deutsche Plattform KenFM, die durch Ken Jebsen betrieben wird, der mitunter schon mit antisemitischen Beiträgen für Aufregung gesorgt hat[1]. Verschwörungstheoretische Medien werden häufig von Lai_innen produziert, was sich auch in laienhaftem, oft düsterem Design widerspiegelt: so spielt beispielsweise die Schweizer Website Alles Schall und Rauch mit der Symbolik einer in Flammen aufgehenden Welt. Thematisch fokussiert werden neben Verschwörungsmythen auch spirituelle und esoterische Themen, wie beispielweise Alternativmedizin.
Allianzen von links bis rechts
Obwohl wissenschaftlich belegt ist, dass u. a. rechtspopulistische Einstellungen einen Einfluss auf die Affinität gegenüber Verschwörungstheorien haben können (Castanho Silva, Vegetti & Littvay, 2017)[2], zeigt sich im Zuge der Corona-Pandemie mitunter ein differenzierteres Bild. Medial diskutiert wurde beispielsweise die Corona-Demonstration in Berlin im Herbst 2020, als Demonstrant_innen mit Deutschen Reichsflaggen ihr Unbehagen kundgetan haben – nur wenige Meter entfernt davon Demonstrant_innen mit Regenbogenflaggen in der Hand. Obgleich es sich hierbei um ein paradoxes Bild handelt, wird gleichzeitig deutlich, dass das gemeinsame Thema – die Kritik an Corona-Massnahmen – als kleinster gemeinsamer Nenner neue Gemeinschaften bildet. Die politische Gesinnung scheint dabei eine geringere Rolle einzunehmen, vielmehr gilt es, gegen das gemeinsame «Feindbild» aufzustehen. Dabei können sich die jeweiligen Motive für eine Teilnahme an entsprechenden Veranstaltungen stark voneinander unterscheiden: Nicht alle Demonstrationsteilnehmenden verbindet der Glaube an Verschwörungstheorien. Und auch der Glaube an jene Mythen kann sehr unterschiedlich ausgeprägt sein, gibt es schliesslich mittlerweile eine Vielzahl davon.
Neben der Gefahr einer zunehmenden gesellschaftlichen Polarisierung birgt die zunehmende Verbreitung von Verschwörungstheorien im Zuge dieser Pandemie für alle Bürger_innen ein weiteres ernst zu nehmendes Risiko. Studien konnten bereits belegen, dass der Glaube an Verschwörungstheorien Einfluss auf das subjektive Handeln haben könne: So würden Personen, die an Verschwörungstheorien mit Bezug auf den Klimawandel glauben, weniger auf ihren ökologischen Fussabdruck achten (Jolley & Douglas, 2014; van der Linden, 2015). Aktuelle Befunde zeigen weiter, dass der Glaube an eine Corona-Verschwörung mit dem Nichteinhalten von Massnahmen einhergehen könne (Pummerer et al., 2020) – was schlussendlich unser aller Gesundheit gefährden würde.
Viele von uns erreichten in den letzten Monaten verschwörungstheoretische Beiträge, beispielweise über Messenger-Dienste, von Personen aus dem Bekanntenkreis. Auch als Forscherin zum Thema «Verschwörung» ist man umso bestürzter, wenn man auch im Privaten damit konfrontiert wird. Prinzipiell scheint jede_r für den Glauben an Verschwörungen empfänglich zu sein, der/die stark mit Gefühlen der Unsicherheit und Ängsten während der Krise zu kämpfen hat. Die Frage, wie man in diesem Fall am besten reagieren soll, ist schwierig, zumal jeder Versuch, eine Verschwörungstheorie aufzudecken, von Anhänger_innen als weiterer Beweis für die Wahrheit der Theorie gedeutet werden kann. Ich sehe es dennoch als wesentlich, sich auf einen möglichst respektvollen Diskurs einzulassen, um jene abzuholen, die für rationale Argumente überhaupt noch empfänglich sind. Dabei ist es wesentlich, die Ängste dieser Personen ernst zu nehmen und diese nicht ins Lächerliche zu ziehen; Fragen zu stellen und nicht zu schnell aufzugeben. Dies bedeutet Arbeit für uns alle und wird realistischerweise nicht immer gelingen. Gerade aber bei Personen, die uns nahestehen, sollten wir uns die Mühe machen.
[1] Z. B. https://www.belltower.news/kenfm-ken-jebsen-der-gefaehrliche-querfront-demagoge-99419/
[2] Wenn auch strittig, so konnten weitere Studien keinen politischen Einfluss bestätigen (z. B. Oliver und Wood (2014)).
Rassismusbericht 2020 jetzt online!
Der neue Rassismusbericht der GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus und der GMS Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz thematisiert anlässlich des Internationalen Tages gegen Rassismus rassistische Vorfälle des vergangenen Jahres. Die Covid19-Pandemie gab antisemitischen Verschwörungstheorien Aufschwung. Aber auch die «Black Lives Matter»-Bewegung hatte einen Einfluss auf die hiesige Rassismusdebatte.
Hier zum gesamten Rassismusbericht 2020
Interview mit Cédric Wermuth: Antisemitische Verschwörungsfantasien und deren Dynamik in einer Welt in der Krise
Herr Wermuth, im Juni 2020 haben Sie eine Interpellation im Nationalrat eingereicht und den Bundesrat gefragt, wie er der Verbreitung antisemitischer Verschwörungstheorien entgegenwirken will. Warum ist Ihnen dieses Thema ein Anliegen?
Die Auseinandersetzung mit Neonazi-Gruppen an meiner Schule hat mich vor über 20 Jahren erstmals so richtig politisiert. Seither setzte ich mich immer wieder mit der Szene auseinander. Sie hat sich stark verändert. Den klassischen Neonazi mit Springerstiefeln und Glatze gibt es so nur noch am Rand, aber viel vom rechtsextremen Gedankengut hat sich erschreckend tief in die Gesellschaft eingegraben. An der Uni durfte ich zu antisemitischen Verschwörungstheorien etwas vertiefter arbeiten, insbesondere zu den «Weisen von Zion». Das war so 2005 oder 2006. Social Media und Youtube etc. begannen gerade so langsam interessant zu werden. Ich weiss noch, wie es mir damals kalt den Rücken runter lief, als ich festgestellt habe, welche Kontinuität antisemitische Verschwörungsmythen bis heute haben – übrigens in allen gesellschaftlichen Kreisen. Das Thema hat mich nie mehr losgelassen. Durch die Geschichte zeigt sich, dass der Glaube an eine bösartige Weltverschwörung praktisch immer am Rande durch die Gesellschaft geistert. Und in Zeiten der Krise kann sich das schlagartig wie Feuer verbreiten, egal wie marginal die Gruppen vorher waren. Und es ist leider so: Auch wenn es überall in der Gesellschaft antisemitische Vorurteile gibt ‒ auch bei Linken ‒, sind es jedes Mal rechtsextreme Gruppen, der die Ideologie besonders anschlussfähig scheint. Richtig Angst habe ich, seit wir im Parlament kurz vor den letzten Wahlen eine Debatte zum Uno-Migrationspakt hatten und plötzlich Vertreter völlig vernünftiger bürgerlicher Parteien Thesen aus dem Dunstkreis der «Umvolkungstheorie» vertraten. Solche und ähnliche ‒ im Kern nichts anderes als die «modernisierte» Versionen einer jüdisch- bolschewistischen Weltverschwörung ‒ finden sich heute praktisch jeden zweiten Tag in Meinungsbeiträgen von ganz normalen Schweizer Tageszeitungen. Zum Beispiel, wenn man sich dort über die Dominanz des «Gender- Wahns» und der «Kulturmarxisten» beklagt. Das zeigt, wie tief das Problem in der Gesellschaft verankert ist.
Was kann die Politik unternehmen, um Verschwörungstheorien möglichst an ihrer Verbreitung zu hindern? Wo findet Prävention schon heute statt, wo und wie könnte sie verbessert werden?
Wichtig ist, dass man das ernst nimmt. Menschen, die an das glauben, was wir Verschwörungstheorien nennen, sind nicht verrückt. Klar gibt es auch individuelle Gründe, aber als Erklärung für die breite Bewegung, die wir heute sehen, reicht das nicht. Das Problem ist in der Mitte der Gesellschaft. Der Griff zu Verschwörungsmythen ist oft Ausdruck eines völlig richtigen Bedürfnisses, nämlich das eigene Schicksal beeinflussen zu können und es nicht von anonymen Kräften wie «den Finanzmärkten» diktieren zu lassen. In dem Sinne weisen uns Verschwörungsmythen immer auch auf eine Lücke in der Politik hin: Dann nämlich, wenn das politische System nicht in der Lage ist, legitime Kritik aufzunehmen. Das heisst, grundsätzlich muss demokratische Politik das tun, was man von ihr erwartet: Das Leben der Menschen verbessern. Dann gibt es die zweite, individuelle Ebene. Hier ist die Schweiz ‒ sorry ‒ein Entwicklungsland. Es gibt viel zu wenig Stellen, an die ich mich wenden kann, wenn Familienangehörige in den Sumpf solcher Mythen abrutschen. Daran müssen wir arbeiten.
Wie ernst nehmen Schweizer Politiker das Thema?
Ich würde gerne eine andere Antwort geben, aber leider überhaupt nicht. Obwohl gerade antisemitische Äusserungen und Übergriffe praktisch weltweit zunehmen, geschieht hierzulande nichts. Im Gegenteil, ausgerechnet die politische Rechte versucht den Antisemitismus als Kampfbegriff aufzunehmen, um gegen die muslimische Minderheit zu hetzen.
Was macht Verschwörungsmythen aus Ihrer Sicht so gefährlich?
Verschwörungsmythen sind selten völlig aus der Luft gegriffen. Sie bieten oft absurde Antworten auf reale Probleme. Es stimmt zum Beispiel zweifellos, dass die Finanzmärkte zu dominant geworden sind, aber es ist natürlich völliger Quatsch, dass dahinter der Plan des Weltjudentums steckt, um die Menschen zu unterwerfen. Es ist völlig richtig, dass private Stiftungen zu viel Einfluss auf die Politik der WHO haben und es stimmt auch, dass die Pharmaindustrie versagt hat, was die Vorbereitung auf die Pandemie angeht. Der Grund dafür ist aber kein Plan, die Menschheit mittels Computerchips zu steuern, sondern schlicht die Logik des profitorientierten Kapitalismus und der Austeritätspolitik nach der Finanzkrise. Wenn sich aber die Demokratie nicht gegen solche selbst verursachten Fehlentwicklungen behauptet, dann werden Verschwörungsmythen weiterwachsen. Und ich sehe gerade in einer Welt in der Krise leider viel negatives Potential.
Zur Person:
Cédric Wermuth ist Nationalrat und seit Oktober 2020 zusammen mit Mattea Meyer Co- Präsident der SP Schweiz. Er hat in Zürich Politikwissenschaft, Wirtschafts- und Sozialgeschichte und Philosophie studiert und lebt heute mit seiner Familie in Zofingen.
Interpellation von Cédric Wermuth
Im Juni 2020 reichte Cédric Wermuth eine Interpellation im Nationalrat ein, die sich mit Antisemitismus in Zusammenhang mit rechtsextremen Verschwörungstheorien befasst. Er stellte dabei unter anderem die Frage, welche Möglichkeiten der Bundesrat sieht, der Verbreitung solcher Verschwörungstheorien im Internet entgegen zu wirken und welche Verantwortung er insbesondere bei sozialen Plattformen wie Facebook, Youtube oder Twitter sieht. In seiner Antwort an Wermuth verwies der Bundesrat auf einen ausstehenden Bericht, den er beim Bundesamt für Kommunikation in Auftrag gegeben hatte. Der Bericht soll die Rolle von Social-Media Plattformen im Bereich der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung, inklusiv des Themas Hassrede beleuchten und abklären, ob es Massnahmen braucht und gegebenenfalls Lösungsansätze vorschlagen. Der Bericht wird im Frühjahr 2021 erwartet. Der Bundesrat erwähnt in seiner Antwort explizit die GRA als Organisation der Zivilgesellschaft, die bereits ein eigenes Meldetool für Rassismus im Internet entwickelt hat.
Rassist sein für einen Tag
Wie fühlt es sich an, aufgrund äusserlicher Merkmale diskriminiert und benachteiligt zu werden? Für viele privilegierte Menschen ist diese Erfahrung nur schwer nachvollziehbar. Die Kantonspolizei Basel-Stadt will dies ändern und führte für ihr Polizeikorps den sogenannten Blue-Eyed Workshop durch. Dabei werden die Teilnehmenden basierend auf äusserlichen Merkmalen in eine diskriminierende und diskriminierte Gruppe eingeteilt und über mehrere Stunden entsprechend behandelt. Wie sich die Teilnahme an einem solchen Diskriminierungs-Workshop anfühlt und was das Erlebte bei den Teilnehmenden auslöst erklären zwei Angehörige der Polizei Basel-Stadt im GRA Podcast.
Antisemitismusbericht 2020 jetzt online!
In Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) publiziert die GRA jährlich den Antisemitismusbericht für die Deutschschweiz. Auch wenn es 2020 zu keiner Zunahme antisemitischer Vorfällen gekommen ist, geben einige Erkenntnisse des Berichts Anlass zur Sorge. Denn Form und Inhalt der antisemitischen Vorfälle haben sich 2020 stark gewandelt. Einerseits durch eine starke Zunahme antisemitischer Verschwörungstheorien. Andererseits durch Verbreitung dieser Theorien durch Messengerdienste wie Telegram wo sie zunehmend auch die Mitte der Gesellschaft erreichen. In Anbetracht der jüngsten Ereignisse mit mehreren Vorfällen vor Synagogen und jüdischen Online-Veranstaltungen im Januar und Februar, lässt sich ein Zusammenhang mit den Entwicklungen im letzten Jahr zumindest erahnen.
Den gesamten Bericht lesen Sie hier.
Eine Zusammenfassung des Berichts finden Sie hier.
Ein Antisemitismus-Trauerspiel in vier Akten
Unter dem Titel «Kein Platz mehr für Juden im Saas Tal» erschien letzten Samstag ein Artikel auf dem Onlineblog «Inside Paradeplatz». Der Beitrag ist nichts anderes als eine Aneinanderreihung antisemitischer Klischees und führte zu heftigen Reaktionen in den Kommentarspalten. Nicht nur die haltlose Stereotypisierung jüdischer Menschen lässt die berechtigte Frage aufkommen, welche Erkenntnis der Beitrag vermitteln sollte, sondern auch der gesamte Aufbau des Artikels. In Tat und Wahrheit liefert der Artikel ein Paradebeispiel, wie Antisemitismus in der heutigen Zeit funktioniert. Und zwar folgendermassen:
1. Akt: Das Alibi
Eigentlich, so suggeriert die Einleitung des Textes, sei das Thema des Artikels die Errichtung eines jüdischen Bethauses in Saas Fee. Dem Leser erschliesst sich jedoch sehr bald, dass es dem Autor um viel mehr als um das kleine Bergdorf im Wallis geht. Dieses dient lediglich als Aufhänger, um Schweizer Juden und Menschen jüdischen Glaubens im Allgemeinen als reiche, frauenunterdrückende, integrationsunfähige Kosmopoliten darzustellen, die immer und überall eine Extrawurst beanspruchen, selbst aber zu keinerlei Anpassung bereit sind.
2. Akt: Der Persilschein
Bevor der Autor jedoch seinen Rundumschlag gegen Menschen jüdischen Glaubens startet, versichert er seinen Leserinnen und Lesern, dass es unter Juden durchaus akzeptable, ja sogar begabte Leute gebe. Er listet einige bekannte Exponenten namentlich auf, denen er lobenswerte Eigenschaften zugesteht. Indem der Autor bekräftigt, einige dieser «Vorzeigejuden» persönlich zu kennen, weist er sein Urteil zu dieser Bevölkerungsgruppe als evidenzbasiert aus und stellt sich zugleich selbst den Persilschein aus für die darauffolgende Auflistung von den Juden zugeschriebenen Eigenschaften.
3. Akt: Guter Jude, böser Jude
Der Grossteil des Beitrags ist dann nichts anderes als eine Aneinanderreihung der typischen Klischees, die antisemitische Ressentiments seit Jahrhunderten einen Nährboden bieten. Während die meisten dieser Aussagen bestenfalls als geschmacklos bezeichnet werden können, geht der Autor mit seiner Beschreibung von Juden als «ferien-hungrige, im Rudel auftretende» Gruppe zu weit. Mit dieser sprachlichen Gleichsetzung mit Tieren entmenschlicht er Jüdinnen und Juden und spricht ihnen damit die Würde ab, die jedem Menschen zusteht, unabhängig von Religion, Hautfarbe oder Nationalität.
4. Akt: Was bleibt
Was die im Text erläuterten Klischees mit dem anfangs erwähnten Saas Fee zu tun haben, bleibt dem Leser schleierhaft. Fest steht hingegen, welche Wirkung der Bericht beim unbefangenen Leser erzeugt. Der über «die Schweizer Juden» vermittelte Eindruck ähnelt dem verzerrten Bild des Juden, wie es Jahrhunderte lang als Projektionsfläche für alles Unheil in der Welt herhalten musste. Mit der Realität hat diese Darstellung herzlich wenig zu tun.
Mehr zum Thema Antisemitismus lesen Sie hier.
GRA und GMS sagen „Nein“ zum Burkaverbot am 7. März
https://www.youtube.com/watch?v=FET45iCH6vE
Die sogenannte. Burkaverbots-Initiative wurde im März 2016 vom «Egerkinger Komitee» lanciert, welches bereits die Minarett-Initiative ins Leben gerufen hatte. Das Ziel der Initiative ist es, die Gesichtsverhüllung aus religiösen Gründen an öffentlich zugänglichen Orten (ausser in Sakralstätten) zu verbieten. Ausserdem bezweckt das Volksbegehren ein landesweites Vermummungsverbot an Demonstrationen. Der Bundesrat lehnt die Initiative ab und erarbeitete einen indirekten Gegenvorschlag vor, welcher den Behörden ermöglicht jede Person zur Enthüllung des Gesichtes zu zwingen, sollte dies aus Identifikationsgründen notwendig sein.
4 Gründe warum GRA und GMS gegen ein Verhüllungsverbot auf Verfassungsebene sind
Falsches Sicherheitsversprechen
Für das Initiativkomitee repräsentiert die Vollverschleierung den radikalen Islam. Die Initianten setzen damit ein unpolitisches Kleidungsstück mit Terrorismus gleich. Doch ein Verbot des Gesichtsschleiers verhindert weder Radikalisierung noch Terrorismus. Erstens leben einige wenige vollverschleierte Frauen in der Schweiz (viel öfter handelt es sich um Touristinnen aus Golfstaaten). Zweitens geht von diesen wenigen Frauen keine nachweisliche Gefahr für die Gesellschaft aus. Bislang ist kein einziger terroristischer Anschlag in Europa von einer Burka-Trägerin verübt worden. Das beweist, dass mit dieser Initiative reine Symbolpolitik zu Lasten der muslimischen Bevölkerung betrieben wird und bewusst Stereotypisierung und Vorurteile gefördert werden.
Der indirekte Gegenvorschlag des Bundesrates ermächtigt Kantone und Behörden dazu, bei Personenkontrollen die Enthüllung des Gesichtes zu fordern, sollte dies zu Identifizierungszwecken notwendig sein. Dieser Gegenvorschlag tritt automatisch in Kraft, sollte die Initiative abgelehnt werden.
Beschneidung der Religionsfreiheit
Ein Verhüllungsverbot wäre ein massiver Eingriff in die Religionsfreiheit, eine zentrale Errungenschaft jeder Demokratie, welche in der Schweiz durch Artikel 15 der Bundesverfassung gewährleistet wird.
Die Religionsfreiheit ist ein Grundrecht und kann nur unter bestimmten Bedingungen eingeschränkt werden. Grundlage für so eine Einschränkung wäre beispielsweise, wenn eine religiöse Praxis die Grundrechte Dritter verletzt. Bei der muslimischen Gesichtsverschleierung ist dies nicht der Fall.
Keine Kleidervorschriften auf Verfassungsebene
Nur weil eine bestimmte Lebensweise nicht der Norm entspricht und für die Mehrheitsgesellschaft nicht nachvollziehbar ist, sollte diese nicht per Gesetz verboten werden. Im Gegenteil; in einer Demokratie wie der Schweiz stehen Kleidervorschriften auf Verfassungsebene im krassen Gegensatz zu unseren pluralistischen und liberalen Werten und führt zur Spaltung der Gesellschaft.
Falschverstandener Feminismus
Das Initiativkomitee ist der Ansicht, dass die muslimische Gesichtsverhüllung eine den Frauen aufgezwungene Praxis ist. Ein Verbot auf Verfassungsebene würde diesen Frauen Freiheit bringen. Zu denken, dass mit dieser Initiative muslimische Frauen «gerettet» werden können, ist jedoch paternalistisch, rassistisch und sexistisch. Mit dieser Denkweise spricht man allen muslimischen Frauen die Fähigkeit ab, selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen und nährt die stereotypische Darstellung der unterwürfigen und unterdrückten Muslima. Wahrer Feminismus zeichnet sich aber dadurch aus, dass jede Frau selbstbestimmt entscheiden kann, wie sie sich kleidet – ob freizügig oder verhüllt.
Durch den Tatbestand der Nötigung (Art. 181 Strafgesetzbuch) ist es bereits heute strafrechtlich verboten, jemanden zur Verhüllung des eigenen Gesichts zu zwingen.
Ein in der Verfassung verankertes Verhüllungsverbot widerspricht den liberalen Werten der Schweiz, beschneidet die Religionsfreiheit und untergräbt die Selbstbestimmung der Frau. Mit falschen Sicherheitsversprechen wird bewusst Stimmung gegen eine religiöse Minderheit gemacht und Stereotypen werden gefördert. Aus diesen Gründen empfehlen GRA und GMS ein «Nein» zur Verhüllungsverbotsinitiative am 7. März.
Weiterführende Links:
- Tachles, Meinungsbeitrag zum Burkaverbot von GRA-Präsident Pascal Pernet: www.tachles.ch/artikel/standpunkte/nein-zum-verhuellungsverbot
- Parlamentarisches „Nein“-Komittee: www.nein-zu-kleidervorschriften.ch
- Operation Libero: www.operation-libero.ch
- FDP gegen Verhüllungsverbot in der Verfassung: www.fdp.ch/kampagnen/burka-initiative-nein
Zoom-Bombing: Antisemitismus in neuem Gewand
Zoom-Bombing. Ein weiterer Begriff, der neben R-Wert, Inkubationszeit und FFP2-Masken unseren Pandemie-Wortschatz prägt. Doch was genau ist Zoom-Bombing, wer steckt dahinter und wer ist davon besonders stark betroffen?
Beim Zoom-Bombing werden Online-Meetings gestört. Neben gewaltverherrlichenden Szenen werden oft auch antisemitische und rassistische Obszönitäten über die Lautsprecher und Bildschirme mit den völlig perplexen Teilnehmenden geteilt. Da die Hacker gut organisiert sind und in Gruppen vorgehen, ist der einzige Ausweg oftmals der Abbruch der Live-Übertragung. Dass es sich bei diesem Phänomen mehr als um blöde Lausbubenstreiche handelt, wurde spätestens klar, als das FBI im März eine offizielle Warnung herausgab.
Jüdische Menschen besonders gefährdet
Während jeder Opfer eines Zoom-Bombings werden kann, sind gewisse Minderheiten besonders gefährdet. Bereits im April 2020 warnte der deutsche Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) vor antisemitisch motiviertem Zoom-Bombing. Zu Recht, wie sich zeigte: In London wurde eine Veranstaltung einer Synagoge durch antisemitische Beleidigungen unterbrochen. An einer Holocaust Gedenkfeier in Berlin störten Hacker die Zeremonie mit Heil-Hitler-Rufen. Auch Schulen sind betroffen. Während des Online-Unterrichts eines deutschen Gymnasiums erschien ein Hakenkreuz auf dem Bildschirm.
Auch die Schweiz ist betroffen
Auch in der Schweiz ist es mehrfach zu antisemitisch motivierten Zoom-Bombing gekommen. Im vergangenen Mai musste ein Online-Podium der Jungsozialisten abgebrochen werden, nachdem sich Hacker in das Meeting einloggten und antisemitische Karikaturen durch den für alle ersichtlichen Bildschirm teilten. Der mutmassliche Grund für die Störung: Einer der Podiums-Teilnehmer war Jude.
An einer Schweizer Universität kam es Anfang Jahr zu einer antisemitischen Störaktion während eines Vortrags über Judaistik. Die Universität reichte Strafanzeige ein. Vor wenigen Tagen kam es erneut zu einem antisemitischen Vorfall, als Unbekannte sich in eine Kulturveranstaltung der Jüdischen Liberalen Gemeinde Zürich einloggten und die perplexen Teilnehmenden mit Hitlerbildern und Videos von sexualisierter Gewalt an Kindern schockten. Der Event musste schliesslich abgebrochen werden.
Rechtsextreme Szene
Doch wer steckt hinter diesen Attacken? Aufgrund der Anonymität des Internets lässt sich diese Frage nicht immer abschliessend beantworten. Die Vermutung liegt nahe, dass rechtsextreme Gruppierungen für viele dieser Zoom-Bombings verantwortlich sind. In den USA konnte bereits nachverfolgt werden, wie Rechtsradikale gezielt jüdische Online-Veranstaltungen aufspüren, um diese mit antisemitischen Obszönitäten zum Abbruch des Events zu bringen.
Ohnmacht und Entsetzen
Auch wenn die Übeltäter nicht immer identifiziert werden können – für die Betroffenen sind diese Vorfälle schwerwiegend. Gerade für ältere Leute, die während der Pandemie isoliert sind, ist eine solche Erfahrung besonders schmerzhaft. Online-Kulturveranstaltungen bieten eine willkommene Ablenkung, die von zu Hause aus zugänglich sind. Dass jüdische Menschen gerade dort blindem Hass ausgesetzt werden, ist besonders tragisch und kann sogar re-traumatisierend sein für Menschen, die Antisemitismus auch im «echten Leben» erfahren haben. Besonders verstörend ist dabei die Tatsache, dass man diesen schlimmen Szenen zu Hause, in den eigenen vier Wänden, ausgesetzt ist. An dem Ort, an dem man sich sonst am sichersten vor Übergriffen fühlt.
Dass vielen Veranstaltern bei einem Zoom-Bombing nichts anderes übrigbleibt, als den Event abzubrechen, ist tragisch. Denn mit dem Abbruch entzieht man den jüdischen Menschen nicht nur die Möglichkeit einer willkommenen Ablenkung während der Pandemie. Man entzieht ihnen vor allem die Möglichkeit, Teil des kulturellen Lebens zu sein – und damit Teil der Gesellschaft.
Die traurige Lehre, die man aus diesem neuen Phänomen ziehen kann? Was für Antisemitismus im «echten Leben» gilt, trifft auch online zu. Jüdische Institutionen werden systematisch als Ziel für die Verbreitung von Hass und Antisemitismus aufgesucht. Jüdisches Leben und jüdische Kultur sind essentielle Bestandteile unserer Gesellschaft. Dass sie sowohl online wie auch offline besonderen Schutz bedürfen, ist traurige Realität im Jahr 2021.
Hier gibt es Tipps, wie Sie sich vor Zoom-Bombing schützen können.
Rassismusstrafnorm: Quo vadis?
Vor gut 25 Jahren hat die Schweiz die Rassismsusstrafnorm eingeführt. Wie hat sich die Norm seither entwickelt? Inwiefern haben sich die Bedenken der Gegner bewahrheitet? Und wo und wann kommt die Rassismusstrafnorm heute überall zum Einsatz? Diesen Fragen stellt sich Ständerat und Strafrechtsprofessor Daniel Jositsch im Gespräch mit der GRA Geschäftsleiterin Dina Wyler. Hier geht’s zur Podcastfolge.
GRA Geschäftsleiterin im grossen NZZ Interview
Im Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung spricht die GRA Geschäftsleiterin Dina Wyler darüber, warum antisemitische Verschwörungstheorien gerade Hochkonjunktur haben, wieso die aktuellen Holocaustvergleiche auf Corona-Demos so problematisch sind und wie wichtig es ist, hier als Gesellschaft Stellung zu beziehen. Hier geht’s zum Interview.
Fischhof-Preis prämiert zwei Politiker:innen und eine Aktivistin
Bei der diesjährigen Verleihung des Fischhof-Preises wurden erstmals drei Persönlichkeiten gleichzeitig für ihren Einsatz gegen Rassismus und Antisemitismus ausgezeichnet. Die Preisträger:innen sind alt SP-Nationalrat Angelo Barrile, Mitte-Ständerätin Marianne Binder-Keller und Theologin Nicola Neider Ammann. Im Gespräch mit Moderator David Karasek reflektierten sie über ihre Arbeit, ihre Motivation sowie ihre Sorgen und Ängste – doch auch über ihre Hoffnungen, die trotz aller Herausforderungen spürbar waren.
Alt Bundesrat Moritz Leuenberger sprach ebenfalls mit David Karasek und fragte selbstkritisch: «Bin ich vielleicht selbst antisemitisch, ohne es zu merken?» Er machte darauf aufmerksam, wie tief Rassismus und Antisemitismus in der Gesellschaft verankert sind und wie selten diese Mechanismen hinterfragt werden. Bewegende Laudationen von SP-Nationalrätin Priska Seiler Graf, alt SIG-Präsident Herbert Winter und alt Grünen-Nationalrätin Cécile Bühlmann würdigten die Leistungen der Preisträger:innen eindrücklich.
Der Fischhof-Preis setzt auch 2024 ein starkes Zeichen gegen Diskriminierungen aller Art und bietet ein Gegennarrativ zu den Stimmen, die behaupten, das «Böse» sei unaufhaltsam. Die GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus und die GMS Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz vergeben den Fischhof-Preis, um denjenigen Personen eine Bühne zu geben, die sich für Gerechtigkeit, Demokratie und Inklusion einsetzen.
Eine fotografische Rückschau finden Sie hier.
Foto: Alain Picard