von Maike Trenner
Ihre Familie hat das Thema Antisemitismus und Verfolgung während der Nazizeit hautnah erlebt, Sie sind 1944 als Kleinkind mit Ihrer Mutter und Ihrer Schwester aus Budapest in die Schweiz geflüchtet. Inwieweit war diese Erfahrung ein Beweggrund, sich im GRA Stiftungsrat zu engagieren?
Dass ich als jüdisches Kind überlebe, war tatsächlich nicht vorgesehen. Wir hatten das Glück, dass meine Mutter bei ihrer Heirat mit einem ungarischen Staatsbürger Schweizerin war. Ihr Bürgerrecht hat sie allerdings durch diese Heirat verloren. Dennoch bewirkte der damals in Budapest tätige schweizerische Gesandtschaftssekretär Harald Feller, dass wir zusammen mit einigen anderen Frauen, die ebenfalls ihr Schweizer Bürgerrecht eingebüsst hatten, die Erlaubnis erhielten, in die Schweiz einzureisen. So kam es, dass ich meine Kindheit in St. Gallen verbrachte, wobei das Emigrantenschicksal allgegenwärtig war. Begriffe wie «vergast, verschleppt, Konzentrationslager» gehörten zu den ersten Wörtern, die ich gelernt habe. Diese Zeit hat mich unwiderruflich geprägt. So war für mich eine Ablehnung keine Option, als mich Ronnie Bernheim nach meiner Pensionierung anfragte, ob ich in der Stiftung GRA mitarbeiten würde. Die Gräueltaten des zweiten Weltkriegs dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Rassismus und Antisemitismus muss in jeglicher Ausprägung klar gebrandmarkt bleiben.
Warum braucht es aus Ihrer Sicht die GRA Stiftung?
Weil die Menschen nie lernen. Das Thema Antisemitismus und Rassismus ist leider immer noch hochaktuell. Es verschiebt sich zwar ein bisschen geografisch. Das Grundproblem jedoch, die Angst vor dem Fremden, bleibt. Die GRA Stiftung muss daher Aufklärungsarbeit betreiben und somit versuchen diese Angst aus den Köpfen der Menschen zu vertreiben.
Wie beurteilen Sie das Thema Antisemitismus und Rassismus heute, in der Schweiz aber auch darüber hinaus?
Mit zunehmendem zeitlichem Abstand der Holocaust Ereignisse verflacht die Erinnerung daran. Viele junge Leute kennen die Problematik nur noch als Mythos. Sie machen sich keine Gedanken darüber, was «Hassrede» bedeutet und auslösen kann. Bewusstsein dafür zu schaffen, ist daher eine Aufgabe der GRA Stiftung.
Welchen Beitrag kann der moderne Rechtsstaat leisten, um Rassismus und Antisemitismus erfolgreich zu verhindern? Wie schätzen Sie die aktuelle Rechtsprechung diesbezüglich ein?
Indem der Rechtsstaat klare Zeichen setzt, wie zum Beispiel mit der «Rassismusstrafnorm» und der Schaffung der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus. Soweit ich das überblicke, kann ich in den meisten Fällen die Rechtsprechung nachvollziehen, auch wenn ich manchmal anders entschieden hätte.
Was denken Sie, könnten die Gründe dafür sein, dass heute wieder so viele populistische, ja in gewissen Ländern gar rechtsextreme Parteien, eine hohe Zustimmung bei den Wählerinnen und Wählern bekommen?
Die Mechanismen bleiben immer die gleichen. Die Angst, selber zu kurz zu kommen, treibt viele in die Arme dieser Parteien, welche es verstehen und darauf absehen, einfache Rezepte zu verbreiten, etwa im Sinne «weniger Flüchtlinge – mehr Jobs und Wohnungen». Die erfolgreich geschürte Furcht setzt sich in den Köpfen mancher Menschen und führt bei Wahlen zu Rekordzahlen für die rechten Parteien.
Welche Bereiche oder Projekte innerhalb der GRA Stiftung liegen Ihnen besonders am Herzen? Wie bringen Sie sich ein?
Primär die Bereiche, in denen ich mit meinem Fachwissen nützliche Beiträge leisten kann, so etwa bei Unklarheiten bezüglich Rechtsfragen der GRA Stiftung oder bei der Formulierung rechtlicher Stellungnahmen. Ausserdem bin ich die Älteste im Stiftungsrat und kann somit in manchen Angelegenheiten durch meine Lebenserfahrung helfen, Probleme zu lösen.
Liebe Frau Rottenberg, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Frau Dr. Vera Rottenberg, Bundesrichterin bis Ende 2012, ist seit 2014 als Stiftungsrätin bei der GRA tätig.
Fischhof-Preis prämiert zwei Politiker:innen und eine Aktivistin
Bei der diesjährigen Verleihung des Fischhof-Preises wurden erstmals drei Persönlichkeiten gleichzeitig für ihren Einsatz gegen Rassismus und Antisemitismus ausgezeichnet. Die Preisträger:innen sind alt SP-Nationalrat Angelo Barrile, Mitte-Ständerätin Marianne Binder-Keller und Theologin Nicola Neider Ammann. Im Gespräch mit Moderator David Karasek reflektierten sie über ihre Arbeit, ihre Motivation sowie ihre Sorgen und Ängste – doch auch über ihre Hoffnungen, die trotz aller Herausforderungen spürbar waren.
Alt Bundesrat Moritz Leuenberger sprach ebenfalls mit David Karasek und fragte selbstkritisch: «Bin ich vielleicht selbst antisemitisch, ohne es zu merken?» Er machte darauf aufmerksam, wie tief Rassismus und Antisemitismus in der Gesellschaft verankert sind und wie selten diese Mechanismen hinterfragt werden. Bewegende Laudationen von SP-Nationalrätin Priska Seiler Graf, alt SIG-Präsident Herbert Winter und alt Grünen-Nationalrätin Cécile Bühlmann würdigten die Leistungen der Preisträger:innen eindrücklich.
Der Fischhof-Preis setzt auch 2024 ein starkes Zeichen gegen Diskriminierungen aller Art und bietet ein Gegennarrativ zu den Stimmen, die behaupten, das «Böse» sei unaufhaltsam. Die GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus und die GMS Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz vergeben den Fischhof-Preis, um denjenigen Personen eine Bühne zu geben, die sich für Gerechtigkeit, Demokratie und Inklusion einsetzen.
Eine fotografische Rückschau finden Sie hier.
Foto: Alain Picard