Interview mit Cédric Wermuth: Antisemitische Verschwörungsfantasien und deren Dynamik in einer Welt in der Krise
18.03.2021

Herr Wermuth, im Juni 2020 haben Sie eine Interpellation im Nationalrat eingereicht und den Bundesrat gefragt, wie er der Verbreitung antisemitischer Verschwörungstheorien entgegenwirken will. Warum ist Ihnen dieses Thema ein Anliegen?

Die Auseinandersetzung mit Neonazi-Gruppen an meiner Schule hat mich vor über 20 Jahren erstmals so richtig politisiert. Seither setzte ich mich immer wieder mit der Szene auseinander. Sie hat sich stark verändert. Den klassischen Neonazi mit Springerstiefeln und Glatze gibt es so nur noch am Rand, aber viel vom rechtsextremen Gedankengut hat sich erschreckend tief in die Gesellschaft eingegraben. An der Uni durfte ich zu antisemitischen Verschwörungstheorien etwas vertiefter arbeiten, insbesondere zu den «Weisen von Zion». Das war so 2005 oder 2006. Social Media und Youtube etc. begannen gerade so langsam interessant zu werden. Ich weiss noch, wie es mir damals kalt den Rücken runter lief, als ich festgestellt habe, welche Kontinuität antisemitische Verschwörungsmythen bis heute haben – übrigens in allen gesellschaftlichen Kreisen. Das Thema hat mich nie mehr losgelassen. Durch die Geschichte zeigt sich, dass der Glaube an eine bösartige Weltverschwörung praktisch immer am Rande durch die Gesellschaft geistert. Und in Zeiten der Krise kann sich das schlagartig wie Feuer verbreiten, egal wie marginal die Gruppen vorher waren. Und es ist leider so: Auch wenn es überall in der Gesellschaft antisemitische Vorurteile gibt ‒ auch bei Linken ‒, sind es jedes Mal rechtsextreme Gruppen, der die Ideologie besonders anschlussfähig scheint. Richtig Angst habe ich, seit wir im Parlament kurz vor den letzten Wahlen eine Debatte zum Uno-Migrationspakt hatten und plötzlich Vertreter völlig vernünftiger bürgerlicher Parteien Thesen aus dem Dunstkreis der «Umvolkungstheorie» vertraten. Solche und ähnliche ‒ im Kern nichts anderes als die «modernisierte» Versionen einer jüdisch- bolschewistischen Weltverschwörung ‒ finden sich heute praktisch jeden zweiten Tag in Meinungsbeiträgen von ganz normalen Schweizer Tageszeitungen. Zum Beispiel, wenn man sich dort über die Dominanz des «Gender- Wahns» und der «Kulturmarxisten» beklagt. Das zeigt, wie tief das Problem in der Gesellschaft verankert ist.

Was kann die Politik unternehmen, um Verschwörungstheorien möglichst an ihrer Verbreitung zu hindern? Wo findet Prävention schon heute statt, wo und wie könnte sie verbessert werden?

Wichtig ist, dass man das ernst nimmt. Menschen, die an das glauben, was wir Verschwörungstheorien nennen, sind nicht verrückt. Klar gibt es auch individuelle Gründe, aber als Erklärung für die breite Bewegung, die wir heute sehen, reicht das nicht. Das Problem ist in der Mitte der Gesellschaft. Der Griff zu Verschwörungsmythen ist oft Ausdruck eines völlig richtigen Bedürfnisses, nämlich das eigene Schicksal beeinflussen zu können und es nicht von anonymen Kräften wie «den Finanzmärkten» diktieren zu lassen. In dem Sinne weisen uns Verschwörungsmythen immer auch auf eine Lücke in der Politik hin: Dann nämlich, wenn das politische System nicht in der Lage ist, legitime Kritik aufzunehmen. Das heisst, grundsätzlich muss demokratische Politik das tun, was man von ihr erwartet: Das Leben der Menschen verbessern. Dann gibt es die zweite, individuelle Ebene. Hier ist die Schweiz ‒ sorry ‒ein Entwicklungsland. Es gibt viel zu wenig Stellen, an die ich mich wenden kann, wenn Familienangehörige in den Sumpf solcher Mythen abrutschen. Daran müssen wir arbeiten.

Wie ernst nehmen Schweizer Politiker das Thema?

Ich würde gerne eine andere Antwort geben, aber leider überhaupt nicht. Obwohl gerade antisemitische Äusserungen und Übergriffe praktisch weltweit zunehmen, geschieht hierzulande nichts. Im Gegenteil, ausgerechnet die politische Rechte versucht den Antisemitismus als Kampfbegriff aufzunehmen, um gegen die muslimische Minderheit zu hetzen.

Was macht Verschwörungsmythen aus Ihrer Sicht so gefährlich?

Verschwörungsmythen sind selten völlig aus der Luft gegriffen. Sie bieten oft absurde Antworten auf reale Probleme. Es stimmt zum Beispiel zweifellos, dass die Finanzmärkte zu dominant geworden sind, aber es ist natürlich völliger Quatsch, dass dahinter der Plan des Weltjudentums steckt, um die Menschen zu unterwerfen. Es ist völlig richtig, dass private Stiftungen zu viel Einfluss auf die Politik der WHO haben und es stimmt auch, dass die Pharmaindustrie versagt hat, was die Vorbereitung auf die Pandemie angeht. Der Grund dafür ist aber kein Plan, die Menschheit mittels Computerchips zu steuern, sondern schlicht die Logik des profitorientierten Kapitalismus und der Austeritätspolitik nach der Finanzkrise. Wenn sich aber die Demokratie nicht gegen solche selbst verursachten Fehlentwicklungen behauptet, dann werden Verschwörungsmythen weiterwachsen. Und ich sehe gerade in einer Welt in der Krise leider viel negatives Potential.

Zur Person:
Cédric Wermuth ist Nationalrat und seit Oktober 2020 zusammen mit Mattea Meyer Co- Präsident der SP Schweiz. Er hat in Zürich Politikwissenschaft, Wirtschafts- und Sozialgeschichte und Philosophie studiert und lebt heute mit seiner Familie in Zofingen.

Interpellation von Cédric Wermuth
Im Juni 2020 reichte Cédric Wermuth eine Interpellation im Nationalrat ein, die sich mit Antisemitismus in Zusammenhang mit rechtsextremen Verschwörungstheorien befasst. Er stellte dabei unter anderem die Frage, welche Möglichkeiten der Bundesrat sieht, der Verbreitung solcher 
Verschwörungstheorien im Internet entgegen zu wirken und welche Verantwortung er insbesondere bei sozialen Plattformen wie Facebook, Youtube oder Twitter sieht. In seiner Antwort an Wermuth verwies der Bundesrat auf einen ausstehenden Bericht, den er beim Bundesamt für Kommunikation in Auftrag gegeben hatte. Der Bericht soll die Rolle von Social-Media Plattformen im Bereich der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung, inklusiv des Themas Hassrede beleuchten und abklären, ob es Massnahmen braucht und gegebenenfalls Lösungsansätze vorschlagen. Der Bericht wird im Frühjahr 2021 erwartet. Der Bundesrat erwähnt in seiner Antwort explizit die GRA als Organisation der Zivilgesellschaft, die bereits ein eigenes Meldetool für Rassismus im Internet entwickelt hat.

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Bei der diesjährigen Verleihung des Fischhof-Preises wurden erstmals drei Persönlichkeiten gleichzeitig für ihren Einsatz gegen Rassismus und Antisemitismus ausgezeichnet. Die Preisträger:innen sind alt SP-Nationalrat Angelo Barrile, Mitte-Ständerätin Marianne Binder-Keller und Theologin Nicola Neider Ammann. Im Gespräch mit Moderator David Karasek reflektierten sie über ihre Arbeit, ihre Motivation sowie ihre Sorgen und Ängste – doch auch über ihre Hoffnungen, die trotz aller Herausforderungen spürbar waren.  

Alt Bundesrat Moritz Leuenberger sprach ebenfalls mit David Karasek und fragte selbstkritisch: «Bin ich vielleicht selbst antisemitisch, ohne es zu merken?» Er machte darauf aufmerksam, wie tief Rassismus und Antisemitismus in der Gesellschaft verankert sind und wie selten diese Mechanismen hinterfragt werden. Bewegende Laudationen von SP-Nationalrätin Priska Seiler Graf, alt SIG-Präsident Herbert Winter und alt Grünen-Nationalrätin Cécile Bühlmann würdigten die Leistungen der Preisträger:innen eindrücklich. 

Der Fischhof-Preis setzt auch 2024 ein starkes Zeichen gegen Diskriminierungen aller Art und bietet ein Gegennarrativ zu den Stimmen, die behaupten, das «Böse» sei unaufhaltsam. Die GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus und die GMS Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz vergeben den Fischhof-Preis, um denjenigen Personen eine Bühne zu geben, die sich für Gerechtigkeit, Demokratie und Inklusion einsetzen.

Eine fotografische Rückschau finden Sie hier.

Foto: Alain Picard

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