Analyse und Erläuterung zu Diskriminierungsfällen
Bericht als PDF herunterladenVorwort
Das junge Jahr 2022 begann so, wie das alte Jahr aufgehört hatte: Unbewilligte CoronaDemonstrationen machten Schlagzeilen, der Unmut der Massnahmengegner:innen gegen die Regierung war hoch. Rechtsextreme Gruppierungen wie die „Junge Tat“ nutzten die Aufmärsche wie Trittbrettfahrer:innen und verbreiteten öffentlich wirksam ihre rechtsextremen Parolen.
Doch dann änderte sich die Politik abrupt. Am Mittwoch, 16. Februar 2022, wurde nach fast drei Jahren andauernden Anspannungen rund um die Covid-19 Pandemie vom Bundesrat entschieden, dass alle Massnahmen – mit Ausnahme der Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr sowie in Gesundheitseinrichtungen – auf einen Schlag aufgehoben werden. Die Massnahmengegner:innen packten ihre Transparente ein und es wurde ruhig auf den Strassen. Die „Junge Tat“ musste unverhofft ihre Bühne verlassen. Der Frieden sollte nicht von langer Dauer sein. Am 24. Februar 2022 wurde erneut Geschichte geschrieben. Russland griff das Nachbarland Ukraine an. Diskriminierungsvorfälle und auch verbaler Rassismus im öffentlichen Raum sowohl gegen Russ:innen als auch Ukrainer:innen in der Schweiz nahmen schlagartig zu. Russische Bürger:innen, welche in der Schweiz wohnten, wurden beispielsweise vom Tennisunterricht ausgeschlossen. Ein Arzt verweigerte sogar einem HIV-positiven russischen Patienten die Behandlung. Einmal mehr zeigte sich, dass Krisen einen Nährboden für Hetze gegen Minderheiten sind. Auch der 1. Mai 2022 war ein besonderer Tag für die Schweizer Demokratie. Nach zwei Jahren pandemiebedingter Pause durften die 1. Mai Demonstrant:innen wieder auf die Strasse und die „Junge Tat“ nutzte auch diese öffentliche Bühne und hisste ihre Parolen auf einem Transparent hoch oben auf einem Kran. Mutmasslich missbrauchte sie auch den jungen Sommer mit einem homophoben Angriff während eines Pride-Gottesdienstes an der „Zurich Pride“ – inkognito und vermummt.
Danach verlor sie jegliche Scham und brüstete sich stolz mit diversen Störaktionen und Bekennervideos. Diese Auftritte hatten zur Folge, dass die Fälle von rechtsextremen Aufmärschen, Auftritten und Zusammenkünften insgesamt um +83% angestiegen sind. Auf diese Verschärfung weist auch der aktuelle Lagebericht des Nachrichtendienstes des Bundes (NDB) hin. Selbst die Polizeibehörde Europol erwähnt die „Junge Tat“ in ihrem Bericht und bezeichnet deren Strategie, ihre Aktionen öffentlich in Szene zu setzen, als beispiellos in der rechtsextremistischen Szene.
Doch noch ein weiteres Thema dominierte ab dem Sommer die Schweizer Medien und führte zu hitzigen und grösstenteils wenig konstruktiven Debatten – die sogenannte kulturelle Aneignung. Halb Europa, diskutierte nach dem abgebrochenen Konzert der Band Lauwarm in der Berner Brasserie Lorraine über kulturelle Aneignung, Rassismus und Kolonialismus. Es stellte sich die Frage, wie das Selbstverständliche plötzlich falsch sein konnte, nämlich dass ein Reggae-Sänger auch blond sein darf? Wo ist das Problem, wenn Weisse Dreadlocks-Frisuren tragen? Was will die „Woke“-Bewegung erreichen und was hat sie für einen Einfluss auf den eigentlichen Kampf gegen Rassismus? Weshalb sprechen wir auch im Jahr 2023 darüber und wieso widmet sich die SVP in ihrem Politprogramm explizit dem Kampf gegen den „Gender-Terror“ und „Woke-Wahnsinn“? Können die Themen rund um „linke Identitätspolitik“ sogar das Zünglein an der Waage für die anstehenden eidgenössischen Wahlen im Herbst sein? Zu diesen und vielen weiteren Fragen äussern sich im diesjährigen Bericht die promovierte Kulturwissenschaftlerin Yebooa Ofosu mit schweizerisch/ ghanesischen Wurzeln und Oliver Strijbis, SNF Förderungsprofessor für Politikwissenschaft an der Universität Zürich, jeweils in einem Interview.
Chronologie
Die Chronologie der rassistischen und diskriminierenden Vorfälle, welche die GRA zusammen mit der Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz (GMS) auf www.gra.ch/chronologie fortlaufend führt, registrierte 2022 insgesamt 63 rassistische, diskriminierende oder antisemitische Vorfälle, die schweizweit von den Medien publiziert wurden.
Die Chronologie hat dabei keinerlei Anspruch auf statistische Vollständigkeit, deckt sie doch nur die in der Schweiz von den Medien publizierten Vorfälle ab, welche die Spitze des Eisbergs sind. Alle Vorfälle, welche der GRA direkt gemeldet werden, sind unter den «rassistischen Meldungen» erfasst und werden alle an das Joint Venture «Beratungsnetzwerk für Rassismusopfer» für deren Statistik weitergeleitet. Das Joint Venture, bestehend aus «humanrights.ch» und der «EKR – Eidgenössische Kommission gegen Rassismus», gibt basierend auf ihrer Beratungsarbeit den jährlichen Bericht «Rassismusvorfälle aus der Beratungsarbeit» heraus (vgl. www.network-racism.ch und www.ekr.admin.ch).
Im Vergleich zum Vorjahr weist die Chronologie des Jahres 2022 eine Abnahme von rassistischen und diskriminierenden Vorfällen auf (-27.6%). Gründe dafür sind v.a. die Aufhebung der nationalen Massnahmen gegen die COVID-19 Pandemie im Frühjahr 2022, das Ende der damit einhergehenden Massnahmenproteste und die verringerte Verbreitung von Verschwörungstheorien. Dies führte zu einer starken Abnahme von Holocaustleugnungen bzw. -relativierungen (-100.0%). Ebenfalls abgenommen haben die verzeichneten Diskriminierungen (-52.6%), sowie Sachbeschädigungen und Sprayereien (-26.7%). Wie im Vorjahr wurden dabei mehrheitlich (rechts-)extremistische und rassistische Symbole genutzt. Um 83.3% zum Vorjahr erhöht haben sich jedoch die rechtsextremen Aufmärsche, Auftritte und Zusammenkünfte. Diese Zunahme ist v.a. den Aktionen der Neonazi-Gruppierung «Junge Tat» geschuldet.
Rechtsextreme Aufmärsche nehmen stark zu
Derzeit besteht bezüglich des Verwendens von nationalsozialistischen, rassendiskriminierenden, gewaltverherrlichenden und extremistischen Symbolen in der Öffentlichkeit eine Rechtsunsicherheit. Denn gemäss geltendem Recht bleibt straflos, wer mit einem menschenverachtenden Symbol «nur» die eigene Meinung äussert, nicht aber beabsichtigt, andere damit zu beeinflussen oder für eine bestimmte Ideologie zu werben. Die GRA Stiftung setzt sich deshalb für die Schaffung einer allgemeingültigen Norm ein, welche Symbole unter Strafe stellt, wenn diese für Ideologien stehen, die rassistisch konnotiert sind, Gewalt verherrlichen, elementare Menschenrechte missachten und bestimmten Menschen ihre Daseinsberechtigung absprechen. Die Verbreitung derartigen mit den Grundlagen unserer Demokratie unvereinbaren Gedankenguts liegt offenkundig ausserhalb des Schutzbereichs der Meinungsäusserungsfreiheit. Eine entsprechende Strafnorm hinreichend klar zu konkretisieren, ist durchaus möglich, stellten sich doch diesbezüglich der bisherigen Praxis keinerlei unlösbare Probleme. Dass eine gesetzliche Grundlage erfolgreich umgesetzt werden kann, zeigt auch der Bericht des Bundesamtes für Justiz mit Verweis auf unsere Nachbarländer auf.
43.8% des verbalen Rassismus geschieht bei Sportveranstaltungen
Auffallend ist zudem der grosse Anteil von verbalem Rassismus im öffentlichen Raum an allen Vorfällen von 25.4%. Hier stechen zwei Bereiche hervor: Zum einen die Hetze und auch Diskriminierungen gegen Russ:innen in der Schweiz, nach dem gross angelegten Angriff durch die russische Armee auf die Ukraine im Februar 2022. Zum anderen verbaler Rassismus im Rahmen von öffentlichen Sportveranstaltungen, der 43.8% der Vorfälle ausmacht. V.a. waren dies rassistische Beleidigungen im Zusammenhang mit Fussballspielen.
Rechtsradikalismus / Extremismus
Die registrierten Vorfälle im Zusammenhang mit Rechtsradikalismus bzw. -extremismus machen 28.6% aller Vorfälle der Chronologie 2022 aus. Die meisten rechtsradikalen Vorfälle fanden in Form von rechtsextremen Aufmärschen, Auftritten und Zusammenkünften (17.5%). Diese Erscheinungsformen führt auch der Bundesnachrichtendienst (NDB) in seinem Lagebericht 2022 auf, zusätzlich werden von den Autor:innen Plakataktionen erwähnt.1
Die „Junge Tat“ ist für die Hälfte der medial wahrgenommenen rechtsextreme Aufmärsche verantwortlich
In der ersten Jahreshälfte fanden diese fast ausschliesslich in Zusammenhang mit Coronademonstrationen statt. Die Massnahmengegner:innen boten rechten Ideologien eine Plattform. Nach Aufhebung der schweizweiten Covid-19-Massnahmen im Frühjahr 2022 verschwanden
die Massnahmendemonstrationen allmählich aus den Medienberichten. Dies nutzte die Neonazi-Gruppierung «Junge Tat» für sich und ihre Aktionen. In der zweiten Jahreshälfte wurden alle in der Chronologie aufgenommenen rechtsextremen Aufmärsche, Auftritte und Zusammenkünfte von der «Jungen Tat» organisiert (45.5% der Kategorie «Rechtsextreme Aufmärsche, Auftritte, Zusammenkünfte»). Diese Entwicklung wurde im Lagebericht des NBDs mit Ausblick auf das Jahr 2022 bereits prognostiziert. Es wurde davon ausgegangen, dass sich mit dem Ende der Covid-19-Pandemie die Szene um den gewalttätigen Coronaextremismus beruhigt. Danach dominiere u.a. der Rechtsextremismus die Bedrohungslage im Bereich «gewalttätiger Extremismus»2.
Ausserdem führt der NDB einen weiteren Grund für den Erfolg von Neonazi-Gruppierungen wie der «Jungen Tat» auf: Die Befürchtung, bei einem Outing als gewalttätige:r Rechtsextremist:in mit persönlichen Konsequenzen wie Arbeitsplatzverlust rechnen zu müssen, sei bei diversen Exponent:innen gesunken. Dies dürfe die Motivation erhöhen, öffentlich Aktionen durchzuführen und damit auch neue mögliche Mitglieder anzuziehen. Zusammenfassend sieht der NDB eine Verschärfung der Lage im Bereich gewalttätiger Rechtsextremismus seit 20203.
Bei den verzeichneten Vorfällen in der Kategorie Sachbeschädigung und Sprayereien (17.5%) sind 72.7% der Berichte eindeutig rechtsradikalen Inhalten zuzuordnen. Vorwiegend geht es um das Sprayen oder Schnitzen eines Hakenkreuzes.
Antisemitismus
Die GRA gibt gemeinsam mit dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) jährlich einen Antisemitismusbericht heraus, der einen Überblick über die registrierten antisemitischen Vorfälle und die aktuelle Lage in der Schweiz gibt. Die Zahl der antisemitischen Vorfälle hat auch letztes Jahr zugenommen. In der realen Welt wie auch Online sind Anstiege im „Antisemitismusbericht 2022“ ersichtlich. In der Schweiz hat sich seit Beginn der Coronapandemie vor drei Jahren eine verschwörungsaffine Subkultur gebildet. Diese ist heute für einen Grossteil der antisemitischen Vorfälle Online verantwortlich. Diese Subkultur und ihre Telegramgruppen verursachen mittlerweile 75 Prozent aller erhobenen Onlinevorfälle. Sie ist damit hauptverantwortlich dafür, dass auch 2022 eine leichte Steigerung bei den antisemitischen Vorfällen in der deutsch-, der italienisch- und der rätoromanischsprachigen Schweiz verzeichnet wurde. Aber auch in der realen Welt wurde erneut eine Steigerung der Zahl antisemitischer Vorfälle registriert (+7.6%). Erstmals seit 2018 wurde der SIG Meldestelle eine Tätlichkeit gemeldet. Seit Juli 2022 ist eine spezifische Meldestelle für die italienischsprachige Schweiz besetzt. Sie hat ihren Sitz an der Università della Svizzera italiana hat und wird von der Goren Monti Ferrari Foundation unterstützt. Die dort gemeldeten und durch ein eigenes Monitoring erfassten Vorfälle fliessen in diesen Antisemitismusbericht ein.
Anti-Schwarzen-Rassismus
23.8% aller in der Chronologie verzeichneten Vorfälle können dem Anti-Schwarzen-Rassismus zugeordnet werden. Dabei tritt hervor, dass diskriminierende Vorfälle gegen Schwarze Personen v.a. in Form von strukturellen bzw. institutionellem Rassismus auftreten.
Gemäss Arbeitsdefinition der Fachstelle für Rassismusbekämpfung FRB handelt es sich bei strukturellem Rassismus um eine in der Gesellschaft begründete und historisch gewachsene Ausgrenzung und Benachteiligung bestimmter Gruppen, welche als «normal» hingenommen und deshalb auch nicht unbedingt wahrgenommen oder hinterfragt wird. Weitergehend können nach FRB als struktureller Rassismus auch durch Tradition, Sozialisation und Erziehung geprägte Welt- und Menschenbilder bezeichnet werden, die weitgehend unbewusst Werte, Einstellungen und Handlungen prägen. Solche impliziten Wertvorstellungen erfordern gemäss FRB eine kontinuierliche Hinterfragung von gesellschaftlichen Strukturen, damit mögliche diskriminierende Wirkungen erkannt und angegangen werden können.4 Institutionell ist Rassismus laut FRB, wenn Abläufe oder Regelungen von Institutionen oder Organisationen gewisse Personen und Gruppen in besonders benachteiligender Weise treffen und ausgrenzen; wenn der Staat nicht allen Bevölkerungsgruppen gegenüber seiner Schutz- und Fürsorgepflicht gleichermassen nachkommt; und auch wenn eine Institution ihre Mitarbeitenden sowie ihre Adressat:innen ungenügend vor Diskriminierungen schützt.5 In einem Fall verurteilte das Bundesgericht die Kündigung eines Schwarzen Mannes, der wiederholt rassistischem Mobbing am Arbeitsplatz ausgesetzt war, als rechtsmissbräuchlich, da das Unternehmen nicht seiner gesetzlichen Fürsorgepflicht nachgekommen war. Des Weiteren dominieren im Bereich Anti-Schwarzen-Rassismus weiterhin Themen des Kolonialismus. Alle Vorfälle von verbalem Rassismus im öffentlichen Raum gegenüber Schwarzen Personen beinhalteten die Nennung des kolonialen N-Worts; bspw. die Rede eines Schweizer Fernseh- und Radiomoderators bei einem Wirtschaftsanlass. Auch bei den Fällen der Verbreitung von rassistischen Inhalten ging es ausschliesslich um koloniale Inhalte. Meist handelte es sich um den Verkauf von Gegenständen aus spätkolonialer Zeit. In einem Fall wurde ein stereotyper Schwarzer Servierboy aus den 1930er Jahren auf einer Online-Auktionsplattform als Dekoration zum Verkauf angeboten.
Antimuslimischer Rassismus
Lediglich in 4.8% aller Vorfälle der Chronologie 2022 liegen antimuslimischen Motive vor. Dies bedeutet allerdings nicht, dass antimuslimischer Rassismus kein ernstzunehmendes Problem in der Schweiz ist. Gemäss dem Bericht von Rassismusvorfällen aus der Beratungsarbeit 2021 von EKR und Humanrights.ch ist antimuslimischer Rassismus das dritthäufigste Motiv für rassistische Diskriminierung in der Schweiz (nach Ausländer:innen- bzw. Fremdenfeindlichkeit und AntiSchwarzen-Rassismus).6 Laut Umfragen des Bundesamts für Statistik BFS von 2022 ist der Bevölkerungsanteil, der finde, muslimische Personen seien wie alle anderen, etwas geringer (72.0%) als bei Schwarzen und jüdischen Personen (80.0%). Dies weise auf eine weniger positive Einstellung gegenüber muslimischen Personen hin.7 Laut diesen Umfragen sei auch die Ablehnung von Stereotypen gegenüber muslimischen Personen seltener.8 Dieses Bild spiegelt sich in den Vorfällen im Zusammenhang mit antimuslimischem Rassismus wider, die in der Chronologie 2022 von der GRA registriert wurden. Dabei handelte es sich um Vorfälle der Kategorien Drohungen, Schmierereien, rechtsextreme Aufmärsche und verbaler Rassismus im öffentlichen Raum.
Rassistische Meldungen
Nebst den medialen Vorfällen, welche in der Chronologie 2022 aufgenommen wurden, meldeten sich 41 betroffene Personen direkt über die Webseite, per E-Mail oder telefonisch bei der GRA Stiftung. Neben zahlreichen Meldungen über fremdenfeindliche Vorfälle und verbalen Rassismus im öffentlichen Raum gingen ebenfalls besonders viele Meldungen im Bereich Anti-SchwarzenRassismus und Antisemitismus ein. Im Bereich Anti-Schwarzen-Rassismus fällt besonders das Problem des institutionellen und strukturellen Rassismus auf.
Anti-Schwarzen-Rassismus
23.8% aller gemeldeten Vorfälle im Jahr 2022 sind dem Anti-Schwarzen-Rassismus zuzuordnen. V.a. in den Erscheinungsformen fremdenfeindliche Vorfälle und verbaler Rassismus im öffentlichen Raum. Die häufigsten Lebensbereiche, in denen die Fälle stattfanden, waren öffentliche Verkehrsmittel (31.3%), Schulen (25.0%) und Social Media (18.8%). Auf Twitter wurde bspw. ein Video vom Seenotrettungsschiff Ocean Viking kommentiert: Die geretteten Schwarzen Personen seien „männliche Schwarze Parasiten“. Besonders im Zusammenhang mit den Lebensbereichen öffentliche Verkehrsmittel und Schulen ist auf die Problematik des strukturellen und institutionellen Rassismus hinzuweisen (zur Definition siehe oben). Sowohl öffentliche Verkehrsmittel als auch Schulen sind Träger von öffentlichen Aufgaben und agieren somit als Unternehmen und Institutionen in der staatlichen Sphäre. Kommt der Staat, auch in diesen Bereichen, nicht allen Bevölkerungsgruppen gegenüber seiner Schutz- und Fürsorgepflicht gleichermassen nach, liegt institutioneller Rassismus vor. In den vorliegenden Fällen ist gleichzeitig und unabhängig von institutionellem Rassismus auch struktureller Rassismus vorhanden. Bei gemeldeten Fällen des Anti-SchwarzenRassismus in öffentlichen Verkehrsmitteln handelte es sich v.a. um Fahrkartenkontrollen, die dem Begriff des Racial Profiling zuzuordnen sind. Racial Profiling liegt gemäss Arbeitsdefinition des FRB vor, wenn eine Person ohne konkretes Verdachtsmoment allein aufgrund von physiognomischen Merkmalen, kulturellen Eigenarten und/oder (vermuteter) ethnischer Herkunft oder religiöser Zugehörigkeit von Polizei-, Sicherheits- oder Zollbeamten kontrolliert wird.9 In den vorliegenden Fällen war der Anhaltspunkt für die verdachtsunabhängige Personenkontrolle mutmasslich die Hautfarbe. Es
wurde mehrfach gemeldet, dass Kontrolleur:innen in öffentlichen Verkehrsmitteln bei ihrem Rundgang direkt auf Gruppen Schwarzer Personen zugesteuert sind und kein Interesse gezeigt haben, die weissen Fahrgäste auf ihrem Weg zu kontrollieren. Abgesehen von Vorfällen des Rassistischen Profiling ist es in den öffentlichen Verkehrsmitteln mehrfach zu Beleidigungen von Schwarzen Fahrgästen gekommen. Z.B. wurde ein Schwarzer Schüler während einer Klassenreise in einem Zug von einem anderen Fahrgast als „Scheiss N****“ beschimpft. Die Meldungen des Anti-Schwarzen-Rassismus in Schulen als Bildungsinstitutionen betrafen Fälle von rassistischen Äusserungen zwischen Schüler:innen, bei denen das Lehr- und Betreuungspersonal (meist wiederholt) nicht einschritt. So wurde ein Junge in seiner Klasse wiederholt rassistischen Witzen und auch Beleidigungen ausgesetzt. Die Klassenlehrerin schritt trotz mehrfacher Aufforderung durch die Eltern nicht ein. Es ist zu erwähnen, dass die Datenlage des BFS zum Zusammenleben in der Schweiz 2022 auf eine offenbar positivere Einstellung gegenüber schwarzen Personen als gegenüber anderen Personengruppen hinweist. Betrachte man negative Stereotype über schwarze Personen, sinke die Zustimmung der befragten Bevölkerung.10
Antisemitismus
23.0% aller gemeldeten Vorfälle im Jahr 2022 sind dem Antisemitismus zuzuordnen. Die Meldungen in dieser Gruppe sind sehr durchmischt. Es handelt sich v.a. um Verbreitung von rassistischen Inhalten, Sachbeschädigungen und Sprayereien sowie Leugnung bzw. Relativierung des Holocaust. Die Lebensbereiche, in denen diese Vorfälle auftraten, sind ebenso vielfältig. Am meisten fanden die Meldungen in Nachbarschaft und Quartier statt. Inhaltlich standen das Zeigen von Nazisymbolen und -gesten wie der Hitlergruss und antisemitische Verschwörungstheorien im Vordergrund. Bspw. fand eine Frau einen Miniflyer mit der Verschwörungserzählung über eine jüdische Mafia in ihrem Briefkasten.
Fremdenfeindliche Vorfälle
21.0% der gemeldeten Fälle waren fremdenfeindliche Vorfälle. Fremdenfeindlichkeit ist nach Arbeitsdefinition des FRB eine auf Vorurteile und Stereotype gestützte Haltung bezeichnet, die alles «Fremde» negativ wertet bzw. Abzulehnendes als «fremd» verurteilt, ohne damit auf spezifische (rassifizierte) Menschengruppen ausgerichtet zu sein.11 Die Meldungen in dieser Gruppe sind vielfältig. Am häufigsten fanden die fremdenfeindlichen Vorfälle in den Lebensbereichen Arbeitsplatz, Schule und Wohnungsmarkt/Mietverhältnis statt. Z.B. wurde in einer Mail auf ein Wohnungsinserat geantwortet, dass Nachmieter:innen mit Migrationshintergrund unerwünscht seien.
Ausblick
Mit Blick auf das Wahljahr 2023 ist bereits absehbar, dass Themen rund um Rassismus und andere Diskriminierungsformen von den Parteien politisch aufgenommen und für ihre Zwecke instrumentalisiert werden. In welchem Mass diese Debatten konstruktiv sein werden, steht offen. Es bleibt zu hoffen, dass Probleme wie die Gefahr des gewaltbereiten Rechtsextremismus und die gesamtgesellschaftliche Komplexität des strukturellen bzw. institutionellen Rassismus wirksam angegangen werden.
Interviews
Yeboaa Ofosu
Yeboaa Ofosu ist promovierte Kulturwissenschaftlerin mit schweizerisch/ghanesischen Wurzeln. Sie betreibt seit 25 Jahren Kulturmanagement und Kulturförderung und ist Dozentin an der Hochschule der Künste Bern HKB. Interview Sie sprechen ein riesiges Feld an, welches sich nicht so leicht abstecken lässt. Um daraus mindestens etwas hervorzuholen: Unsere Gesellschaft befasst sich mehr denn je mit Anliegen von Minderheiten. Das ist einerseits wirklich gut und eine Errungenschaft, andererseits gestaltet sich dies schwierig. Dafür gibt es mehrere Gründe. Einer davon ist, dass das für die Mehrheit bequem gewesene Gleichgewicht zwischen Minderheiten und der Mehrheit am Aufbrechen ist, was für beide Seiten ungewohnt ist. Von den erstarkten Minderheiten sind einige sehr laut und ihr Ton ist oft wenig konstruktiv. Dies gibt der Mehrheit die Gelegenheit, nicht in eine Diskussion zu einzutreten. Das alles führt zu Polarisierungen. Ja, Polarisierung ist sicher ein wichtiger Terminus als Antwort auf Ihre Frage. Des Weiteren die neuerdings aufkommende Frage, wie viele Partikularinteressen unsere Gesellschaft verträgt.
Als Kulturwissenschaftlerin verstehen Sie es, komplexe kulturelle Phänomene zu analysieren, zu verstehen und zu vermitteln. Letzten Sommer führten wir Debatten über Weisse, die Dreadlocks tragen und darüber, ob sie dies überhaupt dürfen. Was konkret ist kulturelle Aneignung?
Die kulturelle Aneignung hat zwei Gesichter. Da ist einmal ihr schöpferischer und kulturstiftender Nutzen als Motor des Weiterkommens. Es gibt wohl keine Kultur ohne Aneignung. Kultur beinhaltet Techniken. Diese dienen einander zu und ergänzen sich, sie reagieren aufeinander. Stile von Musik z.B. werden mit anderen Stilen ergänzt, es wird zitiert, gesampelt. So entwickelt sich Musik. Ebenso das Denken und Handeln. Menschen bereisen (oder kolonialisieren …) andere Länder, bringen Ideen, Gegenstände und Techniken nach Hause. Andere, fremde Gedanken, Ansichten, Konzepte und Gepflogenheiten werden übernommen. Kaum etwas ist heute noch rein. Aneignung bedeutet also, Impulse aufzunehmen, in ein schon bestehendes System einfliessen zu lassen und Dinge zu entwickeln. Wer keine Impulse empfängt, entwickelt sich nicht, hat ein schwächeres Bewusstsein, isoliert sich, verblödet oder verroht. Dies gilt sowohl für Individuen als auch für Gruppen. Soweit meine Hymne. Der Begriff hat aber eben auch ein anderes Gesicht. Möglich sind Verstrickungen mit Vorgängen wie Dominanz, Macht und Ausbeutung, mit Profit durch Nichteigenes. Diese problematische Seite der kulturellen Aneignung wird bei uns vornehmlich durch Personen betont, welche sich dem Antirassismus verschrieben haben. Diese Menschen sind woke und von strengen Vorstellungen geleitet, wie ihrer Meinung nach unsere Gesellschaft zu sein hat.
Ist Woke sein ein neues Phänomen und wer gehört zur linken Identitätspolitikbewegung?
Vor zwei Jahren kannte kaum jemand in der Schweiz das Wort woke und schon gar nicht seine Herkunft. Es wird gesagt, der Begriff sei ein afroamerikanischer, der Schwarze dazu aufforderte „wach“ zu sein, insbesondere gegenüber der Polizei. Diese Herkunft, wenn sie denn stimmt, ist für uns in der Schweiz nicht mehr wichtig – wenn auch interessant. Woke sind heute vornehmlich jüngere, sogenannt gebildete Menschen, die sensibel bis hypersensibel sind gegenüber Diskriminierungen aller Art wie bspw. Rassismus, Sexismus und ihren Stereotypen. Aber auch gegenüber bestimmten Aspekten der Identität wie Sex/Gender oder der Hautfarbe, als auch gegenüber Umweltthemen. Und insbesondere gilt ihre Wokeness der Sprache und der Repräsentation dieser Dinge. Sie sind in unserer Gesellschaft aber tatsächlich eine Minderheit und sie gehen davon aus, dass die von ihnen erkannten und herausgestrichenen Missstände durch Verbote und Reglementierungen aus der Welt zu schaffen seien. Der genauere Blick zeigt leider immer wieder, dass sie selber wenig divers oder diskussionsbereit sind und dass sie ihrerseits Stereotypen aufsitzen.
Gegen «Gender-Terror und Woke-Wahnsinn» will die SVP auf allen politischen Ebenen ankämpfen. Wie sehen Sie die Erfolgschancen für die SVP, mit diesem Thema Wähler:innen zu gewinnen? Und was bringt uns diese Polarisierung?
Es ist leider so, dass viele woke und identitätsfokussierte Anliegen entweder nur schwer nachvollziehbar sind oder im Bereich der Umsetzung Probleme schaffen. Und oft sind Ideologien im Spiel. Ganz richtig steht die Frage im Raum, wie woke Forderungen mit Pluralismus und Diversität übereinkommen. Ich denke, die SVP trifft hier nicht nur bei ihrer konservativen Mehrheit, sondern selbst bei Linken ins Schwarze. Prognosen sind nicht mein Beruf, ich sehe da aber schon etwas auf uns zukommen. Es ist wie beim Fussball: eine Vorlage. Wokeness ist für die SVP eine Vorlage. Die Voten der SVP gegen die Wokeness brechen nun ihrerseits Bahn und geben den Medien Ansporn, mehr und oft negativ über Wokeness zu sprechen. So spielt die Politik. So spielen die Medien. Das eigentlich Beunruhigende an dem Ganzen ist die Polarisierung. Dabei geht es doch gerade im Fall von Uneinigkeit um Diskussion und Abgleich – und um Gemeinsinn. Deswegen meine Bitte: Sprecht miteinander. Ich weiss, dass die „sozialen Medien“ die Fähigkeit zur direkten Begegnung aus der Gesellschaft zu drängen im Begriff sind, aber wir kommen nicht darum herum, miteinander zu sprechen und einander zuzuhören. Wir sollten akzeptieren, dass es unterschiedliche Meinungen gibt. Raus aus den Blasen! Was lässt sich dazu mehr sagen?
Gegenüber der Tamedia sagten Sie in einem Interview, dass die Debatte rund um Antirassismus den People of Color schadet. Inwiefern?
Es geht mir gar nicht um PoC, sondern um Minderheiten generell. Was Minderheiten angeht, bin ich mir sicher, dass die wirklich vulnerablen und wirklich benachteiligten Minderheiten gar nicht an den aktuellen Diskussionen teilnehmen. Sondern vornehmlich Menschen, die sich Allies nennen, kaprizieren sich auf gewisse Aspekte gewisser Minderheiten und belehren uns, dass unser Umgang falsch sei. So wie man sich in der Brasserie Lorraine stellvertretend für eine abwesende Kultur einsetzte. Das zeitigt keinen Nutzen, sondern im besten Fall Kopfschütteln. Im weniger guten Fall – das ist ja Ihre Frage – bauen sich in diesem Zuge neuerdings Abneigungen und pauschale Verdächtigungen auf, die unsere Gesellschaft nicht weiterbringen werden. Schon gar nicht, wenn Kontrolle und Zensur, Wort- und Denkverbot, Angst und Polarisierung, Eingriffe in die Meinungsäusserungsfreiheit, Auslöschung von Meinung und neuerdings Ausgrenzung daraus resultieren.
Was bedeutet die Debatte für den Kampf gegen Rassismus?
Rassismus ist eine Tatsache, auch struktureller Rassismus. Es gibt ein paar Menschen, die sich ernsthaft und auf gute Weise damit beschäftigen, auf diesen Umstand hinweisen und ihn bekämpfen. Bei ihnen ist auch viel Expertise anzutreffen. Gleichzeitig gibt es eine Vielzahl Menschen, die sich des Themas bewusst ist und sich entweder aus Sorgfalt oder aus purer Selbstverständlichkeit nicht rassistisch verhält und auch entsprechend Mühe zeitigt mit der aktuell allumfassenden Definition von Rassismus, der zufolge jede zweite Handlung eine rassistische sein soll. Ich frage mich, ob etwas gegen Rassismus getan ist, indem der Begriff nun inflationär gebraucht wird. Im Kampf gegen Rassismus steht nun die Diskussion des Minderheitenbegriffs an. Wir befinden uns in einem Muskelspiel von Minderheitenanliegen gegenüber der privilegierten Mehrheit. Mehr und eben auch diversere Leute beteiligen sich heute an Diskursen. Wie aber gehen die beiden Entitäten miteinander um? Wie gehen wir mit erstarkten Minderheiten um, die sich aufführen, als wären sie die Mehrheit? Vielstimmigkeit verlangt ja umso mehr Diskussion.
Was wäre Ihre abschliessende Antwort dazu?
Politische Parteien und Institutionen, die offen sind für diese Themen, müssen im Bereich des Rassismus, der Diskriminierung, des Umgangs mit Cancelling etc. echte Diskussionen ermöglichen und fordern und dabei dasjenige herausarbeiten, was die echten Probleme sind. Bedeutet, dass diese Parteien und Institutionen kritisch sein sollen. Der Minderheitenbegriff muss diskutiert, die Umsetzung des Diversitätsversprechens muss angegangen werden. Wir brauchen Lösungen, die in unser Land passen. Es ist ja nicht so, dass es da an Herausforderungen fehlt.
Oliver Strijbis
Oliver Strijbis ist SNF Förderungsprofessor für Politikwissenschaft an der Universität Zürich und affilierter Professor an der Franklin University Switzerland (Lugano). Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Wahlen und Abstimmungen sowie Nationalismus und Migration.
Herr Strijbis, Sie beobachten bereits seit vielen Jahren Wahlen in der Schweiz. Wie gewinnen Parteien am meisten Stimmen?
In der Schweiz gewinnen Parteien vorwiegend Wahlen mit Themen, welche den Menschen Sorgen bereiten. Das bedeutet, dass die Probleme aktuell sein müssen und auch als real wahrgenommen werden müssen. Die Parteien müssen somit über ein bedeutendes Thema Themenführerschaft besitzen, das heisst auf diesem Gebiet in der Bevölkerung als kompetente Partei wahrgenommen werden. Es ist also ein Zusammenspiel von Themenkompetenz der Partei mit der Bedeutung des Themas in der Öffentlichkeit.
Kommen wir direkt zur SVP. Ihr werden klare Kompetenzen zugesprochen. Esther Friedli, Programmchefin der SVP, verkündete, dass die Partei den „Gender-Terror“ auf allen politischen Ebenen bekämpfen wird. Gender Themen gehören bekanntlich nicht zur Kernkompetenz der SVP. Haben Sie das Gefühl, dass die Partei mit diesem Parteiprogramm die Wähler:innen mobilisieren bzw. sogar gewinnen kann?
Das hängt sehr von den anstehenden Makrothemen ab. Falls ein Hitzesommer kommt, uns eine Rezession erreicht oder im schlimmsten Fall einen Nuklearanschlag, dann wird die Strategie der SVP mit Genderthemen nicht aufgehen. Sollte sich über den Sommer tatsächlich kein anderes Makrothema ergeben, wird die SVP mit dem Genderthema weiterspielen können und übertriebene „politische Korrektheit“ anprangern. Diese Elitenkritik korreliert stark mit der Einstellung zu Migrationsthemen und Gleichstellungsthemen. Diskurse über kulturelle Themen sind für die SVP attraktiv und gehören zu ihrer Kernkompetenz. Mit Ressentiments gegenüber intellektuellen Eliten schafft sie es problemlos, die eigene Wählerschaft zu mobilisieren.
Sie sind spezialisiert auf die methodische Analyse, inwiefern politische Kampagnen einen substantiellen Effekt auf die Wahl- und Abstimmungsresultate haben. Wie schätzen Sie dies im Fall der SVP mit Ihrem Parteiprogramm ein?
In der Schweiz haben Wahlkampagnen der Parteien nur einen geringen Einfluss auf das Wahlverhalten. Was wir nachweisen können, ist, dass übergeordnete Themen dann eine Bedeutung haben, wenn sich die Parteien diese Themen einverleiben. Eine kurzfristige ideologische Kehrtwende beeinflusst die Wählerschaft kaum. In der Schweiz haben wir eine sehr geringe Wahlbeteiligung und wer bei uns wählen geht, ist politisch sehr interessiert und hat bereits stark gefestigte Prädispositionen. Die Parteiidentifikation ist somit zentral und führt zu den fortlaufend stabilen Verhältnissen.
Die SVP setzt mit der Genderthematik auf ein eher rechtes Publikum. Die Bevölkerung umtreibt jedoch andere Themen wie der Klimawandel, die Altersvorsorge oder Energiefragen viel mehr. Hat sich die SVP mit ihrem Programm sich nicht eher ein Ei gelegt?
Nein, ich glaube, dass die SVP ihre Strategie je nach Themenkonjunktur ändern wird. Die SVP versteht es Themen zu lancieren, welche den kulturellen Konflikt in den Vordergrund stellt. Sie schürt gerne die Kontroversen zwischen der Bevölkerungsschicht, welche für Offenheit und Toleranz steht und jener Bevölkerungsschicht, welche für Abschottung und Bevorteilung der dominanten Gruppen steht. Die SVP weiss, dass sie mit diesen Themen und Populismus in der Form von Elitenkritik eine grosse Anhängerschaft mobilisieren kann – auch über die eigene Kernwählerschaft hinaus.
Wie schätzen Sie die Wirksamkeit von Empörungsthemen im Hinblick auf die Wahlen in der Schweiz ein?
Der Empörungsmechanismus funktioniert immer und diesen braucht es auch bei Wahlen, um langfristig die eigene Wählerschaft aktiv zu halten und die Parteiidentifikation zu stärken. In einem Wahljahr geht es aber sehr stark darum, die unentschlossenen Wähler:innen zu mobilisieren und das funktioniert relativ gut mit Populismus.
Nehmen wir mal an, dass die SVP vorwiegend von einem älteren, männlichen und weissen Publikum gewählt wird. Ist es nicht langfristig fahrlässig, sich als Partei mit solchen altmodischen Themen zu positionieren, wenn wir die Bewegung zu mehr Offenheit und Toleranz in der Bevölkerung beobachten?
Die Wahrnehmung des Wählerprofils der SVP ist falsch. Gewisse Forderungen, welche aus der linken, intellektuellen Elite kommen, stossen auch bei einer breiten Bevölkerungsschicht auf Unverständnis. Themen wie z.B. „kulturelle Aneignung“ oder „Genderstern“ werden von vielen Wähler:innen kritisch gesehen. Wir beobachten v.a. bei Themen, bei welchen die Linke selber intolerante Forderungen stellt, dass dies von einer breiten Bevölkerungsschicht sehr kritisch und nicht als ernsthaftes Problem gesehen wird. Bei der Einstellung z.B. gegenüber dem Islam hat die SVP nicht umsonst sehr stark auf negative Stereotypen gesetzt, weil sie sehr wohl wusste, dass dieses negative Bild des Islams in breiten Kreisen auf Resonanz stossen wird. Die SVP versteht sehr gut, wie sie über ihre Kernwählerschaft hinauskommt.
Was bedeutet dies für den Kampf gegen Rassismus, wenn wir uns politisch um die Themen Gendersterne und kulturelle Aneignung kümmern?
Das Problem ist, dass strukturelle Diskriminierung für verschiedene Minderheiten in der Schweiz Tatsache ist. Diese strukturellen Diskriminierungen finden tagtäglich statt und wir sehen weder im Arbeitsmarkt noch im Wohnungsmarkt einen Rückgang. Das sind reale Probleme und dafür gibt es viel mehr Verständnis in der Bevölkerung als für symbolische Debatten über kulturelle Aneignung oder Gendersterne.
Wäre das eine thematische Empfehlung an die linken Parteien?
Themen wie Migration, Nationalismus oder Diskriminierung werden aus wahltaktischen Gründen oft umgangen. Parteien sollten jedoch nicht immer nur die nächste Wahl im Blick haben, sondern auch langfristige Veränderungen anstossen. Deswegen wäre es meiner Meinung nach wichtig, dass sich linke, aber auch liberale Parteien ernsthaft dem Thema Diskriminierung im Alltag widmen und zeigen, dass diese nicht akzeptiert wird. Wenn sich linke als auch liberale Parteien der offensichtlichen Alltagsdiskriminierung widmen, würden sie eine grosse Bevölkerungsgruppe ansprechen und damit auch Sympathien gewinnen. Studien zeigen z.B., dass wenn man in der Schweiz einen türkischen Nachnamen trägt oder einen ex-jugoslawischen Migrationshintergrund hat, eine grosse Wahrscheinlichkeit besteht, dass man auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt und somit diskriminiert wird. Dass die Medien über diesen strukturellen Rassismus nicht schreiben, liegt vermutlich daran, dass sie keine Lust mehr haben über ein Thema zu schreiben, welches seit über 30 Jahren vorherrscht. Es liegt somit in der Verantwortung der liberalen Kräfte bei diesen Themen nicht nachzulassen und immer wieder aufs Tapet zu bringen. Dann würde es auch von den Medien wieder aufgenommen werden und so in die breite Bevölkerung kommen.
Wokeness ist jetzt auf dem politischen Parkett. Wie sollten Ihrer Meinung nach die linken Parteien darauf reagieren und besteht Hoffnung, dass wir am Ende einen gewinnbringenden Diskurs erzielen werden?
Wir besprechen jetzt genau die Wokethemen, anstatt auf die strukturelle Diskriminierung aufmerksam zu machen. Wenn wir so das Spiel der SVP mitspielen, dann wird dies zu keinem konstruktiven Dialog führen, son – dern zu einer Mobilisierung gegen die linke Elite durch rechtspopulistische Kräfte. Die linken Parteien sollten nicht darauf reagieren. Diverse Studien haben gezeigt, dass dies die beste Wahlkampftaktik ist, denn so werden die Themen in der Öffentlichkeit nicht reproduziert. Eine Taktik der linken und liberalen Parteien wäre, dass sie mit dem eigenen Framing antworten und auf tatsäch – liche Vorkommnisse von Diskriminierung hinweist. Auf strukturelle Diskriminierung und die Verstrickung von rechtspopulistischen Akteuren in diesem Zusammen – hang. Am meisten kann die Linke dem entgegensetzen, in dem sie aufzeigt, dass es in der SVP immer noch Neo – nazis gibt und diese Kräfte tatsächlich noch vorhanden sind. Das wäre eine starke Antwort für die Linke. Sie sollte nicht das Spiel der SVP mit einer Debatte über Po – litical Correctness mitspielen.
Literaturverzeichnis
1 Nachrichtendienst des Bundes, Lagebericht 2022, S. 50.
2 Nachrichtendienst des Bundes, Lagebericht 2022, S. 13.
3 Nachrichtendienst des Bundes, Lagebericht 2022, S. 52.
4 Fachstelle für Rassismusbekämpfung (FRB), Begriffe, Strukturelle Diskriminierung / struktureller Rassismus.
5 Fachstelle für Rassismusbekämpfung (FRB), Begriffe, Institutionelle Diskriminierung / institutioneller Rassismus.
6 Eidgenössische Kommission gegen Rassismus, Medienmitteilung – Auswertungsbericht 2021: Rassismusvorfälle aus der Beratungsarbeit.
7 Bundesamt für Statistik, Resultate der Erhebung zum Zusammenleben in der Schweiz 2022, Einstellungen gegenüber bestimmten Personengruppen.
8 Bundesamt für Statistik, Resultate der Erhebung zum Zusammenleben in der Schweiz 2022, Einstellungen gegenüber bestimmten Personengruppen: «Betreffend muslimischen Personen geht die vergleichsweise hohe Zustimmung zu negativen Stereotypen (22%) mit einem geringen Bevölkerungsanteil, der Stereotypen allgemein ablehnt, einher (6%). Der Bevölkerungsanteil, der Stereotypen zu jüdischen und schwarzen Personen generell ablehnt ist höher (14%)».
9 Fachstelle für Rassismusbekämpfung (FRB), Begriffe, Racial Profiling / Verdachtsunabhängige Personenkontrolle.
10 Bundesamt für Statistik, Resultate der Erhebung zum Zusammenleben in der Schweiz 2022, Einstellungen gegenüber bestimmten Personengruppen.
11 Fachstelle für Rassismusbekämpfung (FRB), Begriffe, Fremdenfeindlichkeit.
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Fischhof-Preis prämiert zwei Politiker:innen und eine Aktivistin
Bei der diesjährigen Verleihung des Fischhof-Preises wurden erstmals drei Persönlichkeiten gleichzeitig für ihren Einsatz gegen Rassismus und Antisemitismus ausgezeichnet. Die Preisträger:innen sind alt SP-Nationalrat Angelo Barrile, Mitte-Ständerätin Marianne Binder-Keller und Theologin Nicola Neider Ammann. Im Gespräch mit Moderator David Karasek reflektierten sie über ihre Arbeit, ihre Motivation sowie ihre Sorgen und Ängste – doch auch über ihre Hoffnungen, die trotz aller Herausforderungen spürbar waren.
Alt Bundesrat Moritz Leuenberger sprach ebenfalls mit David Karasek und fragte selbstkritisch: «Bin ich vielleicht selbst antisemitisch, ohne es zu merken?» Er machte darauf aufmerksam, wie tief Rassismus und Antisemitismus in der Gesellschaft verankert sind und wie selten diese Mechanismen hinterfragt werden. Bewegende Laudationen von SP-Nationalrätin Priska Seiler Graf, alt SIG-Präsident Herbert Winter und alt Grünen-Nationalrätin Cécile Bühlmann würdigten die Leistungen der Preisträger:innen eindrücklich.
Der Fischhof-Preis setzt auch 2024 ein starkes Zeichen gegen Diskriminierungen aller Art und bietet ein Gegennarrativ zu den Stimmen, die behaupten, das «Böse» sei unaufhaltsam. Die GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus und die GMS Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz vergeben den Fischhof-Preis, um denjenigen Personen eine Bühne zu geben, die sich für Gerechtigkeit, Demokratie und Inklusion einsetzen.
Eine fotografische Rückschau finden Sie hier.
Foto: Alain Picard