Nach langem Rechtsstreit: Die Chronologie der GRA ist wieder vollständig!
14.06.2020

Gemäss Urteil vom 9. Januar 2018 hat die GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus erfolgreich am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gegen ein Urteil des Schweizerischen Bundesgerichtes geklagt. Demgemäss durfte und darf die GRA einem Politiker mit Recht «verbalen Rassismus» vorwerfen.

Nach Erhalt des Urteils aus Strassburg verlangte die GRA die Durchsetzung des EGMR-Urteils in der Schweiz, respektive die Einstellung der Vollstreckung früherer Urteile. Dies insbesondere deshalb, weil das durch das Bundesgericht gestützte Publikationsverbot des entsprechenden Eintrages in der Chronologie rassistischer Vorfälle immer noch rechtsgültig war.

Der unterlegene Politiker liess auch verlauten, das Urteil aus Strassburg habe für ihn keine Gültigkeit, da für ihn das Bundesgericht die höchste Rechtsinstanz sei. Hier galt es, inhaltliche Klarheit zu schaffen und von der Eidgenossenschaft als Vertragsstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention die Einhaltung der entsprechenden Verpflichtungen zu verlangen.

Als ob es nicht kompliziert genug wäre, verwies das Bundesgericht 2019 die GRA zur Umsetzung des EGMR-Urteils auf den Vollstreckungsweg. In diesem Fall war dies das Bezirksgericht Kreuzlingen. Dieses stützt nun das Begehren der GRA vollumfänglich und das ursprünglich verhängte Publikationsverbot mit der damit verbundenen Strafandrohung werden aufgehoben. Die GRA darf den besagten Eintrag wieder in ihrer Chronologie der rassistischen Vorfälle der Schweiz unter www.gra.ch/chronologie/ aufschalten.

Zur Erinnerung: Der Fall geht zurück ins Jahr 2009 und den Abstimmungskampf über das Minarett-Verbot. Der damalige Präsident der Jungen SVP Thurgau, Benjamin Kasper, setzte sich an einer Veranstaltung für die Initiative ein. Kasper sagte damals, es gelte «der Ausbreitung des Islam Einhalt zu gebieten». Die Schweizer Leitkultur, die auf dem Christentum basiere, dürfe sich nicht «von anderen Kulturen verdrängen lassen».

Die GRA thematisierte diese Äusserungen auf ihrer Internetseite und bezeichnete sie als «verbalen Rassismus». Der so kritisierte Politiker wehrte sich gegen diese Bezeichnung. Sowohl das Thurgauer Obergericht wie auch das Bundesgericht erblickten darin eine Persönlichkeitsverletzung.

Gemäss Urteil des EGMR vom 9. Januar 2018 verletzte die Schweiz aber die Meinungsäusserungsfreiheit der GRA mit dem Verbot, die Rede des Präsidenten der Jungen SVP Thurgau als verbal rassistisch anzuprangern. Im einstimmig gefällten Urteil folgte der EGMR der Argumentation der GRA vollumfänglich und hielt sinngemäss fest:

  1. Es ist zunächst eine Interessensabwägung vorzunehmen: Das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) ist dem Recht auf freie Meinungsäusserung gegenüberzustellen (Art. 10 EMRK). Stehen sich diese gleichberechtigten Grundrechte gegenüber, so muss u.a. geprüft werden, ob es sich um einen Beitrag zu einer Debatte von öffentlichem Interesse handelt. Sodann sind der Grad der Bekanntheit der betroffenen Person, die zugrundeliegende Thematik, das vorherige Verhalten der betroffenen Person sowie der Inhalt, die Form und die Folgen der Veröffentlichung für die Person zu berücksichtigen. Der vorliegende Fall spielte sich vor dem Hintergrund einer intensiv geführten politischen Debatte ab. Der EGMR kam zum Schluss, der Politiker sei eine Person des öffentlichen Lebens, die mit öffentlicher Kritik zu rechnen habe. NGOs wie die GRA nähmen in einer demokratischen Gesellschaft eine ähnliche «Public-Watchdog-Funktion» wahr wie die Presse. Folglich habe sich der Politiker mit seinen öffentlichen Aussagen exponiert und musste mit Kritik von Organisationen wie der GRA rechnen.

 

  1. In der Folge prüfte der EGMR, ob das Werturteil («verbaler Rassismus») eine sachliche Grundlage Dazu erwog der EGMR, die Debatte sei bereits von verschiedenen Organisationen als xenophob, rassistisch und diskriminierend qualifiziert worden. Die Aussage, wonach die Schweizer Leitkultur gegen die Expansion des Islam zu schützen sei, porträtiere den Islam als etwas Negatives, wogegen es die schweizerische Kultur zu verteidigen gelte.

 

Welche inhaltliche Bedeutung hat die Beendigung dieses jahrelangen Rechtsstreites für die Schweiz? In erster Linie ermöglicht das Urteil aus Strassburg der GRA, ihre Rolle als «Watchdog» in Zusammenhang mit Rassismus und Antisemitismus weiterhin wahrzunehmen. Aus der Argumentation des EGMR ergibt sich, dass ein Verhalten unter Umständen zu Recht als rassistisch beurteilt werden darf, auch wenn es nicht unter die Rassismus-Strafnorm (Art. 261bis StGB) fällt.

 

In Bezug auf den politischen Diskurs und die damit einhergehenden inhaltlichen Auseinandersetzungen bedeutet dies, dass selbstverständlich Raum für freie Meinungsäusserungen und Wertungen besteht. Eine NGO wie die GRA darf eine Aussage bewerten, auch wenn sie strafrechtlich nicht relevant ist und sie als das bezeichnen, was sie allenfalls ist, nämlich «rassistisch».

 

Schweizer Politikerinnen und Politiker werden also, als Personen des öffentlichen Lebens, demnach weiterhin damit rechnen müssen, dass ihr Handeln und ihre Äusserungen von der Öffentlichkeit und von NGOs wie der GRA kritisch beobachtet und gewürdigt werden. Das Urteil des EGMR ermutigt die GRA, sich weiterhin gegen jegliche Art von Rassismus und Antisemitismus einzusetzen und diesen dort, wo er auftritt, auch als solchen zu bezeichnen.

 

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Ein Ausschnitt aus dem Flyer des Programms der Ringvorlesung. Darauf zu sehe ist das Logo der Universität Zürich sowie der Titel der Ringvorlesung: Antisemitismus.
05.09.2024

Ringvorlesung «Antisemitismus» der Sigi Feigel-Gastprofessur für Jüdische Studien

Wann: Jeweils montags zwischen 18.15 bis 19.45 Uhr
Daten: 23.09./14.10./28.10/04.11/18.11./2.12./16.12.
Ort: Universität Zürich, Rämistrasse 71, Raum: KOH-B-10

Seit dem Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat der Begriff des Antisemitismus in öffentlichen Debatten wieder hörbar Eingang gefunden. Doch wird nicht nur mit Blick auf dieses Ereignis und seine Folgen über Antisemitismus diskutiert. Jüdische Menschen in der ganzen Welt sind seit dem Herbst 2023 vermehrt antisemitischen Anfeindungen in allen Formen ausgesetzt. Während Jüdinnen und Juden auf diese Weise unmittelbar von Antisemitismus betroffen sind, werden andere im öffentlichen Diskurs wiederum als antisemitisch bezeichnet, wenn sie beispielsweise eine «israelkritische» Stellung zur Lage in Nahost beziehen.

Antisemitismus ist kein neues Phänomen. Der Hass gegen jüdische Menschen blickt auf eine lange (Leidens-)Geschichte zurück, die nun wieder aktuell geworden ist. Die Ringvorlesung analysiert Begriff, Geschichte und Ausdrucksformen des Antisemitismus und lässt Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Gesellschaft zu Wort kommen, die historische Hintergründe, psychologische und rechtliche Dimensionen, ideologische und politische Erscheinungen sowie persönliche Erfahrungen vorstellen.

Die Ringvorlesung wird in Kooperation mit der Gamaraal Foundation veranstaltet (www.last-swiss-holocaust-survivors.ch).

Der Eintritt ist frei.

Weitere Informationen finden Sie im Veranstaltungsflyer.

 

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