Leitkultur

Weitere Begriffe zum Thema Diskriminierung und Verfolgung von Minderheiten:

Das Schlagwort «Leitkultur» tauchte im Jahr 2000 in einer bundesdeutschen Debatte über Einwanderung und Integration auf. Die Anerkennung einer deutschen Leitkultur und die Übernahme der Werte der deutschen Mehrheitsgesellschaft seien Bedingung für die Integration, führten konservative Politiker:innen und Parteien an.

Der Begriff «Leitkultur» wurde vom Sozialwissenschaftler Bassam Tibi geprägt. In seinem 1998 erschienenen Buch «Europa ohne Identität?» forderte er die Verbindlichkeit einer europäischen Leitkultur für alle Einwanderer:innen und stellte sich gegen eine multikulturelle Gesellschaft: «Die Werte für die erwünschte Leitkultur müssen der kulturellen Moderne entspringen, und sie heissen: Demokratie, Laizismus, Aufklärung, Menschenrechte und Zivilgesellschaft», schrieb Tibi.

Nachdem der damalige Fraktionsvorsitzende der CDU, Friedrich Merz, im Herbst 2000 von Einwanderer:innen ein Bekenntnis zur deutschen «Leitkultur» gefordert hatte, fand in den deutschen Feuilletons eine breite Debatte statt. Bald wurde klar, dass unter Leitkultur nicht nur Demokratie und Grundgesetz gemeint war: Die CDU sprach von christlich-abendländischer Leitkultur. 2007 haben CDU und CSU die deutsche Leitkultur in ihr Parteiprogramm aufgenommen. Bei der bayerischen CSU heisst es: «Die Sprache, Geschichte, Traditionen und die christlich-abendländischen Werte [der deutschen Kulturnation] bilden die deutsche Leitkultur.» Für die CDU gehören unter anderem die „konfessionelle Tradition, das besondere Verhältnis zwischen Staat und Kirche und die Verantwortung, die den Deutschen aus den Erfahrungen zweier totalitärer Regime auch für die Zukunft erwächst“ zur deutschen «Leitkultur».

Auch in der Schweiz forderte die Evangelische Volkspartei (EVP) im Umfeld der Minarett-Initiative im November 2009, die christliche Tradition in der Bundesverfassung als Leitkultur zu verankern. Zu einer eigentlichen Debatte über «Leitkultur» ist es hier aber nicht gekommen.

Dass für den Zusammenhalt einer Gesellschaft gemeinsame Grundregeln und Rahmenbedingungen nötig sind, wird von niemandem bestritten. Ob für diesen Zusammenhalt der Begriff «Leitkultur» angebracht ist, wurde aber von vielen in Frage gestellt. «Leitkultur» impliziert ein hierarchisches Verhältnis zwischen verschiedenen Kulturen. Der Begriff wird denn auch meist in polemischer Weise dann gebraucht, wenn es gegen das Konzept des Multikulturalismus und gegen Parallelgesellschaften geht.

Gegenüber der Forderung an Migrant:innen, sich zu einer «Leitkultur» zu bekennen, wird von liberaler und linker Seite argumentiert, die Anerkennung der demokratischen Grundsätze der Verfassung und der bestehenden Rechtskategorien reichten völlig aus, um das Zusammenleben in einer Gesellschaft zu ermöglichen. Daneben müssten Massnahmen getroffen werden, um die soziale und ökonomische Integration von Migrant:innen zu erleichtern. Auch unter einheimischen Schweizer:nnen oder Deutschen sei schliesslich nicht ein Bekenntnis zur Schweizer oder zur Deutschen Tradition massgebend für den Zusammenhalt der Gesellschaft, sondern der Grad der Partizipation und Integration. Zudem impliziere der Begriff «Leitkultur», alle Einheimischen würden eine gemeinsame religiöse und kulturelle Tradition teilen.

Siehe auch den Eintrag multikulturell.

© GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus, 2015

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24.03.2025

Lesung und Gespräch zu «Gojnormativität. Warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen.»

Am 8. Mai 2025 sprechen Judith Coffey und Vivien Laumann im Zollhaus Zürich über ihr Buch «Gojnormativität. Warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen».

Im Buch loten die Autorinnen das Verhältnis von Jüdischsein und weiss-Sein aus und gehen der spezifischen Unsichtbarkeit von Juden:Jüdinnen in der Mehrheitsgesellschaft nach. In Anlehnung an das Konzept der Heteronormativität erlaubt «Gojnormativität», Dominanzverhältnisse in der Gesellschaft zu befragen und so ein anderes Sprechen über Antisemitismus zu etablieren.

Das Buch ist eine Aufforderung zu einem bedingungslosen Einbeziehen von Juden:Jüdinnen in intersektionale Diskurse und Politiken und zugleich ein engagiertes Plädoyer für solidarische Bündnisse und Allianzen.

Wann: 8. Mai 2025 um 19:00 Uhr
Wo: Zollhaus Zürich / online mit Livestream
Sprache: Deutsch und Verdolmetschung in Gebärdensprache (auf Anfrage)
Moderation: Prof. Dr. Amir Dziri
In Kooperation mit: ZIID und feministisch*komplex

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