Ungeziefer

Als «Ungeziefer», Parasiten oder Schädlinge bezeichnen vor allem totalitäre Ideologien und Regime vermeintliche oder wirkliche Gegner:innen. Diese Form der verbalen Diffamierung bereitete sowohl in den stalinistischen Säuberungsprozessen als auch in der nationalsozialistischen Judenverfolgung die physische Vernichtung vor.

Die Entmenschlichung von Verfolgten, indem man sie zu «Ungeziefer» erklärt, ist in totalitären Regimen stets der erste Schritt zur Vernichtung. Wer «Ungeziefer» ausrottet, begeht keinen Mord an Menschen. So dient die aggressive Rhetorik auch zur Schuldentlastung der Täter:innen.

In «Mein Kampf» beschrieb Adolf Hitler 1925/27 «den Juden» nicht als Menschen, sondern als Krankheitserreger: «Er ist und bleibt der typische Parasit, ein Schmarotzer, der wie ein schädlicher Bazillus sich immer mehr ausbreitet, sowie nur ein günstiger Nährboden dazu einlädt. Die Wirkung seines Daseins gleicht ebenfalls der von Schmarotzern: wo er auftritt, stirbt das Wirtsvolk nach kürzerer oder längerer Zeit ab» (306. Auflage, 1938, S. 334).

Diese aggressive Form des Antisemitismus ist zwar älter als der Nationalsozialismus: Schon im 19. Jahrhundert wurden Jud:innen als «wucherndes Ungeziefer» bezeichnet, das man «zertreten» müsse, als «Trichinen und Bazillen», die es zu «vernichten» galt. Doch erst mit dem Nationalsozialismus wurde diese Denkweise zur Ideologie eines Staates, der auch die Macht und den Willen besass, die Vernichtungsvorstellungen in die Tat umzusetzen. Anfang November 1941 besichtigte Hitlers Propagandaminister Goebbels das Ghetto von Wilna im besetzten Polen und schrieb danach in sein Tagebuch: «Die Juden sind die Läuse der zivilisierten Menschheit. Man muss sie irgendwie ausrotten, sonst werden sie immer wieder ihre peinigende und lästige Rolle spielen. Nur wenn man mit der nötigen Brutalität gegen sie vorgeht, wird man mit ihnen fertig.» Gleich äusserte sich Heinrich Himmler, der als Reichsführer SS die Judenvernichtung organisierte: «Sich von Läusen zu befreien, ist keine Frage der Ideologie, sondern eine Sache der Sauberkeit.»

Ganz ähnliche «seuchenpolizeiliche» Rechtfertigungen für die Massentötung von Menschen gab es in der Sowjetunion unter Stalin. So sagte Stalin 1937 in einer Rede über den Trotzkismus, die KPdSU müsse sich «diese lächerliche und idiotische Krankheit vom Halse schaffen», und dies «nicht schlechthin, sondern gründlich, auf bolschewistische Art». «Auf bolschewistische Art» bedeutete die blutigen Säuberungen, in denen zwischen 1934 und 1939 Millionen von Sowjetbürger:innen verhaftet und Hunderttausende hingerichtet wurden. In Schauprozessen bezeichnete der oberste Staatsanwalt Wyschinski ehemalige KP-Parteikader als «verfluchte Spottgeburt von Fuchs und Schwein» und «Otterngezücht», und er forderte, die Angeklagten «müssen wie räudige Hunde erschossen werden».

Im Kalten Krieg wurden ähnliche Schauprozesse in den sozialistischen Staaten Osteuropas abgehalten. In der Tschechoslowakei sagte 1952 der Staatsanwalt über die einst hochrangigen KP-Mitglieder vor Gericht: «Wie tausendarmige Meerpolypen hatten sie sich am Körper der Republik festgesogen und saugten an ihrem Blut und ihrer Kraft.»

In jüngerer Zeit bezeichneten in Ruanda die Hutu vor dem Völkermord 1994 an den Tutsi letztere als Kakerlaken, Schlangen, Gewürm, Stechmücken, Affen etc., die es zu töten gelte. Der kubanische Diktator Fidel Castro nannte Landsleute, die aus Kuba in die USA ausreisen wollten, verächtlich als «Gusanos» (Würmer). Und unter Neonazis und Skins ist «Zecken» das gebräuchliche Schmähwort für Linke und Punks.

Vor dem Hintergrund der Massenmorde, die unter Hitler und Stalin als «Vernichtung von Ungeziefer» galten, wecken SVP-Plakate, auf denen Gegner:innen als Ratten und Raben abgebildet werden, schlechte Erinnerungen.

Siehe auch die Stichworte AntisemitismusGenozid und Endlösung.

© GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus, 2015

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02.12.2024

Wann wandelt sich Aktivismus in Hate Speech?

Wo endet die Meinungsfreiheit und wo wandelt sich Aktivismus in Hate Speech? In der schweizerischen Rechtspraxis nirgends, wenn man politische Parolen zum Nahostkonflikt betrachtet. Um diesem Sachverhalt nachzugehen, hat die Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus die ehemalige Bundesrichterin und Stiftungsrätin Dr. Vera Rottenberg sowie Mia Mengel, wissenschaftliche Mitarbeiterin der GRA, mit einer rechtlichen Analyse beauftragt.

Im Mittelpunkt der Analyse «From the River to the Sea…», «Intifada bis zum Sieg» keinesfalls strafbar? stehen ebendiese Slogans. Sie wurden nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 verstärkt in der Schweizer Öffentlichkeit verwendet. 

Die beiden Autorinnen argumentieren, dass eine strafrechtliche Relevanz der Parolen – insbesondere im Hinblick auf die Diskriminierungs-Strafnorm Art. 261bis StGB – nicht ausgeschlossen werden könne.

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