Schreibtischtäter

Schreibtischtäter:innen sind Personen, die planerische Vorbereitungsarbeiten zu Verbrechen leisten, die von anderen Personen ausgeführt werden. Der Begriff kam in den deutschsprachigen Medien in den 1960er-Jahren im Zusammenhang mit der Verfolgung von NS-Verbrecher:innen auf. Als klassischer Fall eines Schreibtischtäters gilt Adolf Eichmann.

Der Begriff Schreibtischtäter:in ist Mitte der 1960er-Jahre in den deutschsprachigen Medien aufgetaucht. Das «Deutsche Wörterbuch» von Herrmann Paul führt als frühen Beleg einen Artikel der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» vom 17.03.1967 an: «Den Schreibtischtätern auf der Spur. Noch zwei Jahre bis zur Verjährung von NS-Gewaltverbrechen». Auch wenn der Begriff Schreibtischtäter:in oder Schreibtischmörder:in erst zwanzig Jahre nach dem Ende des NS-Regimes geprägt zu sein scheint – der Grundgedanke war schon bei Kriegsende unbestritten: Auch die Propagandist:innen, Planer:innen und Organisator:innen der nationalsozialistischen Verbrechen müssten juristisch zur Verantwortung gezogen werden.

So verurteilte der internationale Militärgerichtshof in Nürnberg 1946 nicht nur Kriegsverbrecher:innen im engeren Sinne, sondern auch Julius Streicher, den Herausgeber der antisemitischen Wochenzeitung «Der Stürmer», wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode: «Streichers Aufreizung zum Mord und zur Ausrottung, die zu einem Zeitpunkt erging, als die Juden im Osten unter den fürchterlichsten Bedingungen umgebracht wurden, stellt eine klare Verfolgung aus politischen und rassischen Gründen in Verbindung mit solchen Kriegsverbrechen, wie sie im Statut festgelegt sind, und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar.»

Im Wilhelmstrassen-Prozess von 1948/49 waren vor allem Bürokrat:innen verschiedener NS-Ministerien angeklagt, darunter  Wilhelm Stuckart, der als Angehöriger des Reichsinnenministeriums an der Wannsee-Konferenz vom 20.01.1942 beteiligt war. In seinem Urteil – er erhielt eine Freiheitsstrafe von knapp 4 Jahren – stehen diese programmatischen Sätze gegen Schreibtischtäter:innen: «Wenn die Kommandanten der Todeslager, die die ihnen erteilten Befehle zur Ermordung der unglücklichen Häftlinge ausgeführt haben, wenn die Leute, die die Befehle für die Abschiebung der Juden nach dem Osten ausgeführt und vollzogen haben, vor Gericht gestellt, für schuldig befunden und bestraft werden – dann sind die Männer ebenso strafbar, die in der friedlichen Stille ihrer Büros in den Ministerien an diesem Feldzug durch Entwurf der für seine Durchführung notwendigen Verordnungen, Erlasse und Anweisungen teilgenommen haben.»

Zum prominentesten Schreibtischtäter der NS-Zeit wurde Adolf Eichmann, der die Deportation der Jud:innen in die Todeslager entscheidend mitorganisiert hatte. 1961 wurde er in Israel zum Tod verurteilt, unter anderem mit dieser Begründung: «Das Verantwortlichkeitsausmass wächst vielmehr im allgemeinen, je mehr man sich von demjenigen entfernt, der die Mordwaffe mit seinen Händen in Bewegung setzt.» (zitiert nach Hannah Arendt: «Eichmann in Jerusalem», Kap. 15)

Der Begriff Schreibtischtäter:in wurde in der Folge auch für andere Beispiele bürokratischer Verantwortung für staatliche Verbrechen gebraucht (z.B. Schiessbefehl für DDR-Grenzer). Daneben fand in den Medien auch eine Banalisierung und Verflachung des Begriffs statt, bis Schreibtischtäter:innen zuweilen zum Synonym für irgendwelche Arbeit am Schreibtisch wurde. So erschien im Oktober 2003 im «NZZ Folio» ein Artikel über den Vitra-Möbelhersteller Rolf Fehlmann unter dem Titel «Kein Schreibtischtäter».

Siehe auch die Einträge Wannseekonferenz«Der Stürmerjude»Nationalsozialismus und Genozid.

© GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus, 2015

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20.11.2024

Fischhof-Preis prämiert zwei Politiker:innen und eine Aktivistin

Bei der diesjährigen Verleihung des Fischhof-Preises wurden erstmals drei Persönlichkeiten gleichzeitig für ihren Einsatz gegen Rassismus und Antisemitismus ausgezeichnet. Die Preisträger:innen sind alt SP-Nationalrat Angelo Barrile, Mitte-Ständerätin Marianne Binder-Keller und Theologin Nicola Neider Ammann. Im Gespräch mit Moderator David Karasek reflektierten sie über ihre Arbeit, ihre Motivation sowie ihre Sorgen und Ängste – doch auch über ihre Hoffnungen, die trotz aller Herausforderungen spürbar waren.  

Alt Bundesrat Moritz Leuenberger sprach ebenfalls mit David Karasek und fragte selbstkritisch: «Bin ich vielleicht selbst antisemitisch, ohne es zu merken?» Er machte darauf aufmerksam, wie tief Rassismus und Antisemitismus in der Gesellschaft verankert sind und wie selten diese Mechanismen hinterfragt werden. Bewegende Laudationen von SP-Nationalrätin Priska Seiler Graf, alt SIG-Präsident Herbert Winter und alt Grünen-Nationalrätin Cécile Bühlmann würdigten die Leistungen der Preisträger:innen eindrücklich. 

Der Fischhof-Preis setzt auch 2024 ein starkes Zeichen gegen Diskriminierungen aller Art und bietet ein Gegennarrativ zu den Stimmen, die behaupten, das «Böse» sei unaufhaltsam. Die GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus und die GMS Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz vergeben den Fischhof-Preis, um denjenigen Personen eine Bühne zu geben, die sich für Gerechtigkeit, Demokratie und Inklusion einsetzen.

Eine fotografische Rückschau finden Sie hier.

Foto: Alain Picard

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