Postzionismus

Weitere Begriffe zum Thema Judentum:

Mit dem Begriff Postzionismus werden politische Positionen und intellektuelle Konzeptionen bezeichnet, in denen Kritik an den Werten und Grundsätzen des Zionismus geübt wird. Eine klare Definition von Postzionismus existiert nicht.

In den frühen 1990er Jahren wurde der Begriff Postzionist:innen erstmals für eine neue Historiker:innen- und Soziolog:innen-Generation in Israel verwendet, deren Forschungen den bisher vorherrschenden zionistischen Konsens in Frage stellten und viele seiner Bestandteile als Mythen entlarvten. Als einer ihrer Vorläufer veröffentlichte Simha Flapan 1987 eine Monografie, in der er sieben Mythen des vorherrschenden israelischen Geschichtsbildes identifizierte. Als Mythen bezeichnete er zum Beispiel die Vorstellung, die palästinensische Bevölkerung habe 1947/48 ihre Wohnorte zunächst freiwillig und später auf Veranlassung der arabischen Kriegsherren verlassen; die 1948 im Entstehen begriffene israelische Verteidigungsarmee sei einer erdrückenden Übermacht der arabischen Armeen gegenübergestanden und damals habe entgegen allen Erwartungen „David“ gegen „Goliath“ gesiegt; die vorstaatliche jüdische Gemeinschaft in Palästina und der junge Staat Israel hätten immer die Hand zum Frieden ausgestreckt, während die Palästinenser:innen und die arabischen Staaten nie Friedensangebote gemacht hätten. Zu den neuen Historiker:innen und Soziolog:innen, die ihre Studien seit den 1990er Jahren veröffentlichten, zählen beispielsweise Ilan Pappe, Avi Shlaim, Tom Segev, Uri Ram oder Baruch Kimmerling.

Die neuen Forschungen und Studien haben – nicht nur in Wissenschaftskreisen – leidenschaftliche Diskussionen ausgelöst, und die Auseinandersetzungen zwischen «zionistischen» und «postzionistischen» Positionen und Sichtweisen wurden im israelischen Feuilleton heftig geführt. In den Debatten wurden grundsätzliche Werte und Konzeptionen der zionistischen Ideologie verhandelt: das Selbstverständnis Israels als jüdischer und demokratischer Staat, das Verhältnis zwischen dem jüdischen Staat und der jüdischen Diaspora und jenes zwischen jüdischen Israelis und der palästinensischen Bevölkerung in Israel. Im Mittelpunkt der postzionistischen Haltungen stand die Überzeugung, Israel müsse angesichts der multikulturellen, multi-konfessionellen und multi-nationalen Realität ein Staat all seiner Bürger:innen werden und seinen Anspruch, ein jüdischer Staat zu sein, aufgeben.

Der Begriff Postzionismus ist vage und umstritten. Zum einen wird damit – meist von der gegnerischen Seite – eine anti- oder nicht zionistische Haltung bezeichnet. Zum anderen wird damit – meist aus akademischer Perspektive – eine historische Phase bezeichnet, in der das kollektivistische, sozialistische und zionistische Ethos der israelischen Gesellschaft der ersten Jahrzehnte einer individualistischen, liberalen und kapitalistischen Gesellschaftsform gewichen ist. Dies mache, so die These, eine Dekonstruktion der zionistischen Ideologie und Utopie nötig und möglich.

Die Mehrheit der jüdisch-israelischen Gesellschaft teilt die postzionistischen Auffassungen nicht. Dennoch haben die neuen Forschungen den Diskurs in Israel verändert und Räume in den Medien und der Akademie geöffnet, in denen andere als die bisher gültigen Geschichtsbilder diskutiert werden können – zur selben Zeit, als auf der politischen Ebene der Oslo-Friedensprozess begann.

Siehe auch die Einträge Zionismus und Antizionismus.

© GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus, 2015

Glossar
Wir helfen

Vorfall melden

Wurden Sie Zeug:innen eines rassistischen oder antisemitischen Vorfalls oder wurden Sie selbst rassistisch oder antisemitisch beleidigt oder angegriffen?

20.11.2024

Fischhof-Preis prämiert zwei Politiker:innen und eine Aktivistin

Bei der diesjährigen Verleihung des Fischhof-Preises wurden erstmals drei Persönlichkeiten gleichzeitig für ihren Einsatz gegen Rassismus und Antisemitismus ausgezeichnet. Die Preisträger:innen sind alt SP-Nationalrat Angelo Barrile, Mitte-Ständerätin Marianne Binder-Keller und Theologin Nicola Neider Ammann. Im Gespräch mit Moderator David Karasek reflektierten sie über ihre Arbeit, ihre Motivation sowie ihre Sorgen und Ängste – doch auch über ihre Hoffnungen, die trotz aller Herausforderungen spürbar waren.  

Alt Bundesrat Moritz Leuenberger sprach ebenfalls mit David Karasek und fragte selbstkritisch: «Bin ich vielleicht selbst antisemitisch, ohne es zu merken?» Er machte darauf aufmerksam, wie tief Rassismus und Antisemitismus in der Gesellschaft verankert sind und wie selten diese Mechanismen hinterfragt werden. Bewegende Laudationen von SP-Nationalrätin Priska Seiler Graf, alt SIG-Präsident Herbert Winter und alt Grünen-Nationalrätin Cécile Bühlmann würdigten die Leistungen der Preisträger:innen eindrücklich. 

Der Fischhof-Preis setzt auch 2024 ein starkes Zeichen gegen Diskriminierungen aller Art und bietet ein Gegennarrativ zu den Stimmen, die behaupten, das «Böse» sei unaufhaltsam. Die GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus und die GMS Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz vergeben den Fischhof-Preis, um denjenigen Personen eine Bühne zu geben, die sich für Gerechtigkeit, Demokratie und Inklusion einsetzen.

Eine fotografische Rückschau finden Sie hier.

Foto: Alain Picard

Mehr erfahren
Fischhof-Preis prämiert zwei Politiker:innen und eine Aktivistin
Fischhof-Preis prämiert zwei Politiker:innen und eine Aktivistin
Fischhof-Preis prämiert zwei Politiker:innen und eine Aktivistin
Fischhof-Preis prämiert zwei Politiker:innen und eine Aktivistin
Fischhof-Preis prämiert zwei Politiker:innen und eine Aktivistin