Ostjude

Weitere Begriffe zum Thema Judentum:

Der Begriff «Ostjude» wurde vom jüdischen Schriftsteller Nathan Birnbaum zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Gegenbegriff zum «Westjuden» geprägt. Wichtiger als die geografische Dimension waren dabei die sozioökonomischen, kulturellen und religiösen Unterschiede zwischen «Westjuden» (meint v. a. Jud:innen aus Deutschland) und «Ostjuden» (meint Jud:innen aus dem östlichen Europa). Der Begriff «Ostjude» ist durch die Verwendung in der antisemitischen Propaganda deutschnationaler Kreise negativ konnotiert, weshalb heute, jedoch nicht einheitlich, die neutralere Bezeichnung «osteuropäischer Jude» verwendet wird.

Bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts war ein Gegensatz zwischen osteuropäischen und westeuropäischen (deutschen) Jud:innen kaum feststellbar. Erst kulturelle, religiöse, rechtliche und sozioökonomische Prozesse, die in den jeweiligen Siedlungsräumen im 18. und 19. Jahrhundert stattfanden, führten zum Gegensatz (innerhalb des aschkenasischen Judentums). Während die deutschen Jud:innen das Jiddische aufgaben und zur deutschen Standardsprache übergingen, entwickelte sich in Osteuropa das Jiddische zu einer eigenständigen Literatursprache. Die mehrheitlich assimilierten und säkularisierten deutschen Jud:innen erhielten 1871 die rechtliche Gleichstellung und zählten eher zur Mittelschicht oder gehobenen Mittelschicht. Im russischen Kaiserreich warteten die osteuropäischen Jud:innen dagegen bis zur Februarrevolution 1917 vergeblich auf die Emanzipation. Sie lebten im sogenannten Ansiedlungsrayon, auf den das Wohn- und Arbeitsrecht der jüdischen Bevölkerung seit dem 18. Jahrhundert beschränkt war. In den Schtetln des Ansiedlungsrayon lebten die osteuropäischen Jud:innen ein stark vom Judentum geprägtes Leben. Der Zugang zu weltlicher Bildung war ihnen stark erschwert, politische Partizipation blieb ihnen verwehrt. Sie zählten in der Folge zur unteren Mittelschicht oder zur Unterschicht.

In den 1880er Jahren emigrierten osteuropäische Jud:innen in der Folge von Pogromen im russischen Kaiserreich ins deutsche Kaiserreich. Sie wurden zunächst als russische oder polnische Jud:innen, Ausländer:innen, aber auch Schnorrer:innen bezeichnet. Sie waren Zielscheibe von Diskriminierungen und stellten für breite Bevölkerungsschichten ein öffentliches Ärgernis dar. Innerhalb des deutschen Judentums war die Meinung gespalten. Seit Ende des 19. Jahrhunderts betrachtete man die osteuropäischen Jud:innen, zumindest teilweise, als Hoffnungsträger:innen, als Erneuerer:innen und Bewahrer:innen des Judentums zugleich. Der ablehnenden oder kritischen Haltung traten positiv besetzte Bilder entgegen.

Die Bezeichnung «Ostjude» für die (zugewanderten) osteuropäischen Jud:innen setzte sich erst im Ersten Weltkrieg mit der deutschen Besetzung des damals unter russischer Herrschaft stehenden östlichen Polens durch. Aus Angst vor der steigenden Zuwanderung osteuropäischer Jud:innen infolge des Krieges sperrte das deutsche Kaiserreich die östliche Grenze und verweigerte die Aufnahme oder Einbürgerung von osteuropäischen Jud:innen. In der öffentlichen Diskussion tauchte das antisemitische «Ostjudenbild» vom «faulen», «arbeitsscheuen» und «unproduktiven» Jud:innen auf. «Ostjude» wurde als Kollektivsingular zur Bezeichnung aller osteuropäischen Jud:innen verwendet. Antisemit:innen verknüpften «Ostjude» mit der deutschen jüdischen Bevölkerung, um damit deutlich zu machen, dass auch die jüdischen Bürger:innen des deutschen Kaiserreichs für sie letztlich nur «Ostjuden» oder allenfalls deren nur äusserlich angepasste Nachfahren waren. Andererseits missbrauchten die Antisemit:innen die teilweise ablehnende oder kritische Haltung der deutschen Jud:innen gegenüber den osteuropäischen Jud:innen als Rechtfertigung für die Propaganda gegen eine «ostjüdische» Zuwanderung.

Nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich die antisemitische Rhetorik in der Weimarer Republik fort. Antisemitische Kreise starteten Kampagnen gegen die Zuwanderung von osteuropäischen Jud:innen und machten sie für die Niederlage des deutschen Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg sowie die politische und wirtschaftliche Krise der Weimarer Republik verantwortlich.
Auch in der Schweiz fanden nach dem Ersten Weltkrieg antisemitische Stereotype über osteuropäische Jud:innen Eingang in die Tagespresse sowie die rechtlich-politische Sprache. Es wurden rechtliche Verordnungen verabschiedet, die sich explizit gegen in der Schweiz lebende osteuropäische Jud:innen richteten.

© GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus, 2019, unter Mitarbeit von Sarah Durrer, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Zentrums für Jüdische Studien in Basel.

Weiterführende Literaturhinweise:

BIRNBAUM, NATHAN, Was sind Ostjuden? Zur ersten Information. Wien 1916, S. 4.
KURY, PATRICK, «Man akzeptierte uns nicht, man tolerierte uns!», Ostjudenmigration nach Basel, 1890‒1930. Basel/Frankfurt a.M. 1998, S. 12. HEID, LUDGER, Achtzehntes Bild: «Der Ostjude» in: SCHOPES, JULIUS H. / SCHLÖR, JOACHIM (Hg.): Antisemitismus. Vorurteile und Mythen. München, Zürich 1995, S. 241

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20.06.2024

Drei Preisträger:innen erhalten den Fischhof-Preis 2024

Die Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA) und die Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz (GMS), unterstützt vom Sigi und Evi Feigel-Fonds, ehren mit der Verleihung des Nanny und Erich-Fischhofpreises drei Persönlichkeiten, die sich kontinuierlich gegen Diskriminierung und für den Schutz von Minderheiten einsetzen.

Die Preisträger:innen der diesjährigen Preisverleihung:

Mitte-Ständerätin Marianne Binder-Keller setzt sich seit Jahren auf der politischen Ebene gegen Antisemitismus und zum Wohl der jüdischen Gemeinschaft ein. Geprägt wurde sie durch das geistige Erbe ihrer Grossmutter Paulina Borner, die im Zweiten Weltkrieg jüdischen Geflüchteten in der «Rosenlaube» in Baden Schutz bot. Ihre Mutter, die Schriftstellerin Rosemarie Keller, schrieb darüber ihren prägenden Roman «Die Wirtin». Binder war massgeblich daran beteiligt, das Verbot von Nazi-Symbolen politisch durchzusetzen. In der schweizerischen Aussenpolitik steht sie für die Einhaltung der Menschenrechte.

Alt-SP-Nationalrat Angelo Barrile kämpfte unermüdlich für Gleichheit und Inklusion in der Gesellschaft. Während seiner Amtszeit initiierte er eine parlamentarische Initiative zum Verbot der öffentlichen Verwendung von extremistischen Symbolen und setzte sich auch für die Entwicklung eines nationalen Aktionsplans gegen LGBTQ-feindliche Hassverbrechen ein. Vehement kämpfte er dafür, dass die Rassismus-Strafnorm um die sexuelle Orientierung erweitert wurde.

Nicola Neider Ammann ist Theologin und Leiterin des Bereichs Migration und Integration der katholischen Kirche Stadt Luzern. Sie verlor im Holocaust jüdische Verwandte väterlicherseits. Heute bietet sie Zugewanderten, darunter Geflüchteten, Migrant:innen und Sans-Papiers tagtäglich Schutz und Unterstützung. Zudem setzt sie sich auf zivilgesellschaftlich-politischer Ebene für deren Integration ein. Sie wirkte an der Migrationscharta mit, unterstützte das No-Frontex-Bündnis und engagiert sich seit der Gründung als Präsidentin der Sans-Papiers Beratungsstelle Luzern.

Der Nanny und Erich Fischhof-Preis in Höhe von CHF 50’000.- wird an Persönlichkeiten oder Institutionen verliehen, die sich in der Bekämpfung von Rassismus im Allgemeinen und Antisemitismus im Besonderen in der Schweiz verdient gemacht haben. Das Preisgeld wird paritätisch unter den Nominierten aufgeteilt.

Die Preisverleihung findet im November 2024 in Zürich statt.

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