Es gibt keine eindeutige Definition des Begriffes Nation. Das Wort stammt aus dem Lateinischen «natio» = Geburt. Es bezeichnet im heutigen Sprachgebrauch sowohl ethnische Kollektive wie auch die Bevölkerung von Nationalstaaten.
Es gibt zwei unterschiedliche Konzeptionen von Nation. Der politische Nationalbegriff versteht nationale Kollektive als Folge eines politischen Willens. In der Französischen Revolution wurde die Nation mit dem Dritten Stand (Bäuer:innen und Bürger:innen) in Abgrenzung gegen den Adel und den Klerus identifiziert. Die Schaffung der Nation war zugleich Programm für die Schaffung von Demokratie: Wer sich zur Demokratie und Revolution bekannte, war Teil der französischen Nation (= Staatsnation). Der ethnische Nationalbegriff hingegen konzipiert Nation als Kollektiv, deren Mitglieder einige oder mehrere Merkmale wie Abstammung, Religion, Sprache, Kultur oder Geschichte teilen (= Kulturnation). In dieser Auffassung existiert ein nationales Kollektiv zeitlich vor dem Nationalstaat und auch unabhängig von einem solchen. Die Gemeinsamkeiten werden dabei als wesenhaft begriffen und in die Vergangenheit projiziert. Im ethnischen Nationalbegriff deckt sich Nation mit dem Begriff «Volk», während in der politischen Konzeption von Nation auch «Volk» politisch begriffen wird: als Kollektiv der Staatsbürger:innen einer Demokratie (von griechisch «demos» = Volk).
Nationalismus nennt man die Ideologie, die den Gedanken der Nation und des Nationalstaates stark betont und aggressiv gegen innen und aussen vertritt. Wo Nation als ethnische Abstammungsgemeinschaft begriffen wird, sind Minderheiten im Nationalstaat potenzielle Störfaktoren, die ausgegrenzt oder assimiliert werden müssen. Wo Nation aber als politische Gemeinschaft verstanden wird, ist Solidarität politisch begründet: Das geteilte Bekenntnis zu Verfassung und Gemeinwesen machen hier die Nation aus. Nationalismus als politische Ideologie und Bewegung kann demnach sowohl befreiende wie auch unterdrückende Aspekte haben. Wenn Nationalismus von bestehenden Nationalstaaten oder ihren Angehörigen ausgeht, ist das Ziel in der Regel Ausbreitung der Macht und Ausgrenzung derjenigen, die als nicht-zugehörig definiert werden – im schlimmsten Fall bis zur ethnischen Säuberung.
Staatsnationen entstanden in West- und Mitteleuropa im 19. Jahrhundert im Zuge der Bildung von Nationalstaaten: auf einem Territorium lebende unterschiedliche lokale, regionale oder religiöse Gruppen wurden durch staatliche Erziehung, nationale Symbole, die Schaffung einer nationalen Geschichte (Feiertage, Gedenktage, Museen, Denkmäler), die Verpflichtung zum Militärdienst und die Herausbildung einer einheitlichen Sprache zu einem nationalen Kollektiv gemacht. Dieser Nationalbildungsprozess begann in West- und Mitteleuropa nach der Reformation. In Osteuropa galten regionale, religiöse oder kulturelle Gruppen innerhalb der Vielvölkerreiche Österreich-Ungarn, Russland und dem Osmanischen Reich als ethnische oder Kulturnationen. Sie genossen mehr oder weniger autonomen Status, aber meist weniger Rechte als das dominante Kollektiv im Reich (Deutsch-Österreicher:innen, Russ:innen, Türk:innen). Beginnend im 19. Jahrhundert und bis heute vollzieht sich in Russland und Osteuropa die Bildung von Nationalstaaten. Dabei wird ein ähnlicher Prozess der Unterwerfung oder Ausgrenzung von regionalen, religiösen, kulturellen Gruppierungen sichtbar, wie er in West- und Mitteleuropa im 19. Jahrhundert stattgefunden hatte. Heute wird die Frage der «nationalen» Identität aufgrund von Migration, Integrationsproblemen und Transformationsprozessen wieder vermehrt diskutiert. Alternativen zur Nation werden in vielen Teilen der Welt unterhalb der Organisationsebene des Nationalstaates (lokale ethnische Gruppen) oder in übernationalen Zusammenhängen (supranationalen Organisationen wie EU, UNO oder in religiösen Gemeinschaften) gesucht und gefunden.
Siehe auch den Begriff Volk/völkisch.
© GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus, 2015