Nachrichtenlose Vermögen sind Werte, bei denen sich der:die Besitzer:in nicht mehr ausfindig machen lässt. Im Kontext des Zweiten Weltkrieges steht der Begriff für Vermögenswerte von Verfolgten des Nationalsozialismus, welche sich nach dem Ende des Krieges noch auf den Schweizer Banken befanden.
Die schweizerische Bundesversammlung beschloss 1996 die Gründung der Unabhängigen Expertenkommission (UEK) – Zweiter Weltkrieg, auch als Bergier-Kommission bekannt. Diese wurde unter anderem damit beauftragt, die Entstehung nachrichtenloser Vermögenswerte auf Schweizer Banken seit 1931 und nach 1945 aufzuarbeiten. Der Abschlussbericht der UEK zeigte auf, dass die Verhaltensweisen der Banken und des Bundes dazu beitrugen, dass Vermögen von Opfern des NS-Regimes nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf den Schweizer Banken liegenbleiben konnten.
Zahlreiche ausländische Kund:innen, die später zu den Verfolgten des NS-Regimes zählten, deponierten in den 1920er und 1930er Jahren einen Teil ihres Vermögens bei Schweizer Banken. Dies taten sie in Form von Spar- und Kontokorrentguthaben oder hinterlegten Vermögenswerte und Wertpapiere in offenen Depots oder gemieteten Tresorfächern. Nach 1931 und während des Krieges verliessen zahlreiche Vermögenswerte den Schauplatz Schweiz wieder, noch bevor eine intensive Suche der Opfervermögen begann. Dies hatte verschiedene Gründe. Einer der Gründe lässt sich darauf zurückführen, dass das NS-Regime in den Jahren 1933 und 1936 die deutsche Bevölkerung und 1938 die österreichische Bevölkerung dazu zwang, ihre ausländischen Devisen anzumelden und dem Staat abzuliefern, dies unter Androhung drakonischer Strafen. Die Schweizerische Nationalbank vereinbarte 1934 und 1938 – nach dem sogenannten «Anschluss» Österreichs – Kompensationsverfahren mit der Reichsbank: Die blockierten Hypothekarforderungen, die in Deutschland bzw. Österreich den Behörden gemeldet wurden, konnten mit den Sparguthaben in der Schweiz verrechnet werden. Die betroffenen Kontoguthaben existierten nach diesem Vorgang nicht mehr.
Im Rahmen des Washingtoner Abkommens von 1946 verpflichteten sich Schweizer Banken, die in der Schweiz liegenden Vermögen von Holocaustopfern ausfindig zu machen und den drei westlichen alliierten Regierungen für Hilfsmassnahmen zu Verfügung zu stellen. Bei zahlreichen Vermögen hat kein Kontakt mehr mit anspruchsberechtigten Personen bestanden. Oftmals waren die Banken allerdings auch nicht bereit, mit Personen Kontakt aufzunehmen, von denen sie nicht wussten, ob sie bei den fraglichen Vermögenswerten tatsächlich erbberechtigt waren. Diese Zurückhaltung begründeten die Banken damit, dass sie das Bankgeheimnis und die Eigentumsrechte nicht verletzen wollten.
In den 1990er Jahren verlagerten Schweizer Geldinstitute ihre Geschäfte zunehmend in die USA. Als dann zwei grosse Bankinstitute ihre Fusion ankündigten, forderten einflussreiche politische Organisationen und Medien, auf der Grundlage des Vorwurfs der Bereicherung von Schweizer Banken, eine Entschädigung für Jud:innen. Im April 1996 beschloss der Bankenausschuss im US-Senat eine öffentliche Anhörung zu den Vermögen von Holocaustopfern in den Schweizer Banken. Es kam ebenfalls zu zahlreichen Massenklagen gegen die Schweizer Geldinstitute. Im August 1998 handelten Schweizer Banken in den USA einen Vergleich aus und verpflichteten sich zu einer Zahlung von 1,25 Milliarden Dollar zugunsten von Holocaust-Überlebenden und deren Nachkommen.
Die intensiven Diskussionen um die nachrichtenlosen Vermögen in den 1990er Jahren führten in der Schweiz zu einer nachhaltigen Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle während des Zweiten Weltkrieges.
Siehe auch Artikel zu «Bergier-Kommission».
© GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus, 2022, unter Mitarbeit von Dr. phil. Darja Pisetzki, ehem. Projektmitarbeiterin der GRA.