Multikulturell

Die Theorie des Multikulturalismus befürwortet eine Politik der gleichwertigen Anerkennung aller kulturellen und ethnischen Gruppen, die zusammen in einer Gesellschaft leben. Die Anfänge des Multikulturalismus liegen in Kanada.

Kanada ist, wie die USA, ein klassisches Einwanderungsland. Knapp 2 Prozent der kanadischen Gesellschaft sind nordamerikanische Ureinwohner:innen («First Nations»), etwas über 50 Prozent sind Abkömmlinge der Anglo- und Frankokanadier:innen (die sich als Gründungsnationen begreifen), weitere 30 Prozent bestehen aus Europäer:innen, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ins Land kamen. Fast 15 Prozent der Bevölkerung besteht aus Personen aus Asien (vor allem China), die in den letzten drei Jahrzehnten eingewandert sind. Diese Vielfalt sowie die Separationsbestrebungen der frankofonen Provinz Quebec haben in Kanada seit den 1970er Jahren zu zunehmender Sensibilität für kulturelle Minderheiten geführt. Sie gipfelte 1985 in der Verabschiedung des «Canadian Multiculturalism Act» («Loi sur le multiculturalisme canadien»). Dieses Gesetz anerkennt das Recht auf Differenz und Gleichwertigkeit aller kultureller Gruppen der kanadischen Gesellschaft und bestätigt die «Einheit in der Verschiedenheit»: Gemeinsame Grundwerte garantieren den Zusammenhalt der Gesellschaft.

Das politische Konzept der multikulturellen Gesellschaft steht im Gegensatz zur Vorstellung des «Schmelztiegels» («Melting Pot»), der in den USA seit Ende des 19. Jahrhunderts als Bild für die Integration von Einwanderer:innen unterschiedlichster Herkunft diente. Die Vorstellung eines «Schmelztiegels» fördert Assimilation und Anpassung, während das Konzept der multikulturellen Gesellschaft die kulturelle Autonomie der einzelnen Herkunftsgruppen bewahren will.

Im deutschsprachigen Raum ist der Begriff Multikulturalismus vor allem durch den Essay des Philosophen Charles Taylor «Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung» (1992) bekannt geworden. Der Begriff «multikulturelle Gesellschaft» weist einerseits als neutrale Bezeichnung auf die Realität hin, dass in den meisten Nationalstaaten Menschen verschiedenster Herkunft leben. Andererseits wird der Begriff auch normativ für jene Gesellschaften verwendet, die eine Politik der Anerkennung betreiben, und verschiedene Sprachen, religiöse Feiertage, Bildungsinstitutionen oder Kleidernormen dieselben Rechte geniessen.

In der deutschen Umgangssprache wird oft abwertend von «Multikulti» gesprochen, dabei aber davon ausgegangen, es handle sich beim Multikulturalismus um eine Verschleierung vermeintlicher Unterschiede zwischen Menschen. Die Politik der Anerkennung in einer multikulturellen Gesellschaft wird von vielen Seiten und aus verschiedenen Gründen angegriffen. Aus einer politisch rechten Perspektive wird die gleichwertige Anerkennung anderer Kulturen grösstenteils prinzipiell abgelehnt. Aus einer liberalen und linken Perspektive wird kritisiert, dass kulturelle Praxis individuelle Rechte beschneiden kann und in solchen Fällen nicht anerkannt werden darf. (Diese Grenze zieht allerdings schon der kanadische «Multiculturalism Act» explizit.) Kritisiert wird ausserdem, dass Unterschiede zwischen Menschen verschiedener Herkunft durch die multikulturelle Politik der Anerkennung zementiert werden können. Verfechter:innen der Politik der Anerkennung gehen davon aus, dass die Vorstellung der «Einheit in der Vielfalt» besser geeignet ist, das Zusammenleben in multikulturellen Gesellschaften zu regeln, als die Forderung nach Anpassung an eine «Leitkultur».

Siehe auch den Begriff Leitkultur.

© GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus, 2015

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24.03.2025

Lesung und Gespräch zu «Gojnormativität. Warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen.»

Am 8. Mai 2025 sprechen Judith Coffey und Vivien Laumann im Zollhaus Zürich über ihr Buch «Gojnormativität. Warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen».

Im Buch loten die Autorinnen das Verhältnis von Jüdischsein und weiss-Sein aus und gehen der spezifischen Unsichtbarkeit von Juden:Jüdinnen in der Mehrheitsgesellschaft nach. In Anlehnung an das Konzept der Heteronormativität erlaubt «Gojnormativität», Dominanzverhältnisse in der Gesellschaft zu befragen und so ein anderes Sprechen über Antisemitismus zu etablieren.

Das Buch ist eine Aufforderung zu einem bedingungslosen Einbeziehen von Juden:Jüdinnen in intersektionale Diskurse und Politiken und zugleich ein engagiertes Plädoyer für solidarische Bündnisse und Allianzen.

Wann: 8. Mai 2025 um 19:00 Uhr
Wo: Zollhaus Zürich / online mit Livestream
Sprache: Deutsch und Verdolmetschung in Gebärdensprache (auf Anfrage)
Moderation: Prof. Dr. Amir Dziri
In Kooperation mit: ZIID und feministisch*komplex

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