Kanun

Der Kanun (von griechisch kanón = Massstab, Regel) ist das Jahrhunderte alte albanische Gewohnheitsrecht, das in mehreren regionalen Versionen überliefert ist. Der Kanun enthält Rechtsvorschriften für fast alle Bereiche des bäuerlichen Lebens (Familie, Heirat, Erbschaft, Bodenrecht, Handel), aber auch strafrechtliche Bestimmungen, darunter genaue Regeln für die Blutfehde.

In den abgelegenen Berggebieten von Nordalbanien und im Westen des Kosovo war die Bevölkerung bis ins 20. Jahrhundert weitgehend auf sich gestellt. Die Regierung war fern, die Justiz reichte nicht bis in diese Täler. Das war auch unter der türkischen Herrschaft auf dem Balkan (1444-1912) nicht anders, obwohl in dieser Epoche die Mehrheit der Albaner:innen zum Islam übertrat. Unter diesen Voraussetzungen entwickelte die albanische Bergbevölkerung ein eigenes Rechtssystem, dessen Normen über Jahrhunderte mündlich von einer Generation zur anderen überliefert und Kanun genannt wurde. Das Wort Kanun stammt aus dem Griechischen (kanón = Masstab, Regel) und kam über das Osmanisch-Türkische (kanun = Gesetz) in die albanische Sprache.

Der Kanun entstand in fünf regionalen Varianten. Die bekannteste ist der Kanun des Lekë Dukagjini, der als erster von einem Franziskanerpater gesammelt, geordnet und niedergeschrieben wurde (Erstveröffentlichung 1933). Daher ist diese Kanun-Version zum Prototyp des Kanuns geworden. Wann der Kanun entstand, lässt sich nicht mehr feststellen. Sicher gab es ihn bereits vor der türkisch-osmanischen Epoche – davon zeugen die Bestimmungen über die Kirche und den Priester. Andere Normen deuten sogar auf vorchristliche Rituale hin. Zwar ist der Kanun nach dem nordalbanischen Fürsten Lekë Dukagjini (1410-1481) benannt, doch das ist eine spätere Zuschreibung.

Der Kanun regelt – mal sehr knapp, dann wieder sehr ausführlich – praktisch alle Lebensbereiche einer Dorfgemeinschaft. Im Zentrum steht der Haushalt der Grossfamilie, die vom Hausherrn, meist dem ältesten Mann, regiert wird. Es ist ein extrem patriarchalisches System, in dem der Vater seine eigenen Kinder sogar töten darf, ohne die Blutrache oder eine Strafe fürchten zu müssen. Entsprechend schwach ist die Stellung der Frauen. Der Kanun enthält – vergleichbar mit dem Zivilgesetzbuch – Bestimmungen über die Familie und Verwandtschaft, die Heirat und Ehe, die Erbschaft («Der Kanun anerkennt als Erben nur den Sohn, nicht die Tochter»), den Bauernhof, seine Grenzen und sein Vieh. Im Vertragsrecht (in der Schweiz das Obligationenrecht) behandelt der Kanun den Arbeitslohn von Bäuer:innen, Schmied:innen und Müller:innen, weiter Handel, Kauf und Darlehen. Schliesslich ist ein Teil den Verbrechen und den Strafen gewidmet – darunter der Blutrache.

Das höchste Gut ist die Ehre jedes Mannes: «Gott gab uns zwei Fingerbreit Ehre mitten auf die Stirn», heisst es im Kanun. Ehrverletzungen müssen mit dem Blut eines männlichen Mitglieds der Familie des Beleidigers vergolten werden – oder können nach komplizierten Vermittlungsakten verziehen werden. Für die Blutrache stellt der Kanun strenge Regeln auf. So muss nach einem Ehrenmord der Täter die Leiche zur Familie des Toten bringen, damit kein Verdacht auf einen Falschen fällt. In den ersten 24 Stunden nach einem Mord darf die Blutrache nicht vollzogen werden; diese Frist kann auf 30 Tage ausgedehnt werden, in denen Zeit für Vermittlung bleibt. Da jede Blutrache einen neuen Vergeltungsmord verlangt, können sich solche Familienfehden über Jahrzehnte hinziehen, wenn keine Vermittlung zustande kommt. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes in Albanien 1990 wurde im Norden des Landes die zuvor vom Staat unterdrückte Blutrache wieder praktiziert. Dabei wurden nun – entgegen dem Kanun – auch Frauen ermordet.

Siehe auch den Begriff Blutrache/Vendetta.

© GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus, 2015

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24.03.2025

Lesung und Gespräch zu «Gojnormativität. Warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen.»

Am 8. Mai 2025 sprechen Judith Coffey und Vivien Laumann im Zollhaus Zürich über ihr Buch «Gojnormativität. Warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen».

Im Buch loten die Autorinnen das Verhältnis von Jüdischsein und weiss-Sein aus und gehen der spezifischen Unsichtbarkeit von Juden:Jüdinnen in der Mehrheitsgesellschaft nach. In Anlehnung an das Konzept der Heteronormativität erlaubt «Gojnormativität», Dominanzverhältnisse in der Gesellschaft zu befragen und so ein anderes Sprechen über Antisemitismus zu etablieren.

Das Buch ist eine Aufforderung zu einem bedingungslosen Einbeziehen von Juden:Jüdinnen in intersektionale Diskurse und Politiken und zugleich ein engagiertes Plädoyer für solidarische Bündnisse und Allianzen.

Wann: 8. Mai 2025 um 19:00 Uhr
Wo: Zollhaus Zürich / online mit Livestream
Sprache: Deutsch und Verdolmetschung in Gebärdensprache (auf Anfrage)
Moderation: Prof. Dr. Amir Dziri
In Kooperation mit: ZIID und feministisch*komplex

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