Blutrache / Vendetta

Blutrache ist eine alte Form der privaten Vergeltung, die meist die Familienehre durch die Tötung ein:er Gegner:in wiederherstellen soll. Blutfehden existierten in vielen Kulturen. Auch heute werden sie noch praktiziert, so in Nordalbanien und im Kosovo, in Kreta und in der kurdischen Gesellschaft. In Süditalien und Sizilien war die Blutrache als Vendetta (italienisch für «Rache») verbreitet.

Die Blutrache oder Blutfehde ist typisch für Gesellschaften, in denen das Recht nicht von einer Zentralgewalt (König oder Staat) garantiert wird. In solchen archaischen Gesellschaften müssen der:die Einzelne und seine:ihre Familie/Sippe das Recht selbst in die Hand nehmen, um es zu verwirklichen. In diesen stark patriarchalischen Kulturen ist die Ehre der Familie das zentrale Rechtsgut, und ihre Verletzung kann nur «mit Blut reingewaschen» werden. Das ist der Grundgedanke der Blutfehde, die bei vielen Völkern auf allen Kontinenten vor den staatlichen Rechtssystemen existierte. Heute findet man sie zum Teil noch parallel zum modernen Recht in Gegenden, wo die Staatsgewalt schwach ist oder wenig Vertrauen geniesst.

In Europa ist die Blutrache im Norden Albaniens und im Westen von Kosovo ein ernstes Problem, das mit der albanischen Migration hin und wieder auch in Mitteleuropa sichtbar wird. In den kurdischen Gebieten der Türkei existiert die Blutfehde ebenfalls – so wurden Anfang Mai 2009 im Südosten von Anatolien 44 Menschen bei einem Überfall auf eine Hochzeitsfeier erschossen. Auch in Kreta soll die Blutfehde noch praktiziert werden. Der süditalienische Begriff für Blutrache – Vendetta – bezeichnet dagegen heute weniger die Ehrenmorde zweier Familien als den Bandenkrieg von Mafiaorganisationen (die oft auch in Familienclans organisiert sind) um die wirtschaftliche Vorherrschaft im Drogenmarkt.

Blutrache ist keine willkürliche Vergeltungsorgie, sondern folgt meistens strengen gewohnheitsrechtlichen Regeln (die z.B. im Kanun der Albaner:innen überliefert sind). Eine Grundregel ist, dass eine Ehrverletzung mit Blut vergolten werden muss – sonst werden der Geschädigte und seine Familie von der Dorfgemeinschaft geächtet, was den gesellschaftlichen Tod bedeutet. Dieser gesellschaftliche Zwang ist ein Grund, weshalb die Blutrache sich in einigen Gegenden von Albanien und Kosovo zäh halten kann. In seinem Roman «Der zerrissene April» beschreibt der albanische Schriftsteller Ismail Kadare sehr genau eine Blutrache nach den Regeln des Kanuns. Da eine Tötung stets die Revanche der anderen Familie herausfordert, können sich die Kettentötungen einer Blutfehde über Jahrzehnte hinziehen und ganze Familien auslöschen. Ursprünglich verlangte der Ehrenkodex des Kanuns, dass nur an männlichen Familienmitglieder Blutrache geübt werden darf – doch heute sind in Nordalbanien auch Frauen gefährdet (siehe Artikel «Albaniens vom Leben ausgesperrte Kinder» in der NZZ vom 12.06.10). Nur innerhalb der Wände ihres Hauses sind betroffene Familien vor der Blutrache sicher.

Eine Blutfehde kann aber durch Verhandlungen und ein Sühnegeld beendet werden, wenn die (zuletzt) geschädigte Familie einwilligt. Bei den alten Germanen hiess diese Sühne Wergeld (Wer = Mann), der albanische Kanun nennt es Blutgeld.

Schon die frühsten Gesetzessammlungen versuchten, die private Fehde durch allgemeine Rechtsnormen zu «verstaatlichen». Auch die strengen Regeln «Auge um Auge, Zahn um Zahn» des Alten Testaments (Exodus 21) sind als Absage gegen eine überbordende Privatjustiz zu lesen. Und im Koran ist die «Wiedervergeltung im Mord» zwar als Regel genannt – doch wird die Verzeihung als die edlere Tat beschrieben (Sure 2, Vers 173 f.).

Siehe auch die Begriffe KanunAltes TestamentKoran und Scharia.

© GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus, 2015

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Bei der diesjährigen Verleihung des Fischhof-Preises wurden erstmals drei Persönlichkeiten gleichzeitig für ihren Einsatz gegen Rassismus und Antisemitismus ausgezeichnet. Die Preisträger:innen sind alt SP-Nationalrat Angelo Barrile, Mitte-Ständerätin Marianne Binder-Keller und Theologin Nicola Neider Ammann. Im Gespräch mit Moderator David Karasek reflektierten sie über ihre Arbeit, ihre Motivation sowie ihre Sorgen und Ängste – doch auch über ihre Hoffnungen, die trotz aller Herausforderungen spürbar waren.  

Alt Bundesrat Moritz Leuenberger sprach ebenfalls mit David Karasek und fragte selbstkritisch: «Bin ich vielleicht selbst antisemitisch, ohne es zu merken?» Er machte darauf aufmerksam, wie tief Rassismus und Antisemitismus in der Gesellschaft verankert sind und wie selten diese Mechanismen hinterfragt werden. Bewegende Laudationen von SP-Nationalrätin Priska Seiler Graf, alt SIG-Präsident Herbert Winter und alt Grünen-Nationalrätin Cécile Bühlmann würdigten die Leistungen der Preisträger:innen eindrücklich. 

Der Fischhof-Preis setzt auch 2024 ein starkes Zeichen gegen Diskriminierungen aller Art und bietet ein Gegennarrativ zu den Stimmen, die behaupten, das «Böse» sei unaufhaltsam. Die GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus und die GMS Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz vergeben den Fischhof-Preis, um denjenigen Personen eine Bühne zu geben, die sich für Gerechtigkeit, Demokratie und Inklusion einsetzen.

Eine fotografische Rückschau finden Sie hier.

Foto: Alain Picard

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