Bergier-Kommission

Die Gründung der Unabhängigen Expertenkommission (UEK) wurde am 13. Dezember 1996 durch die schweizerische Bundesversammlung beschlossen; ein Schlussbericht sollte bis 2001 erstellt werden. Untersuchungsgegenstand der UEK waren alle in die Schweiz gelangten Vermögenswerte der Opfer des NS-Regimes, der Täter:innen und Kollaborateur:innen. Ausserdem sollten die Verflechtungen schweizerischer Industrie- und Handelsunternehmen mit der nationalsozialistischen Wirtschaft untersucht werden. Der Fokus sollte auf deren Beteiligung an «Arisierungsmassnahmen» und der Ausbeutung von Zwangsarbeiter:innen durch Schweizer Firmen in Deutschland liegen. Die schweizerische Flüchtlingspolitik bildete einen weiteren Schwerpunkt: Diese sollte im Zusammenhang mit den wirtschaftlichen und finanziellen Beziehungen der Schweiz mit den Achsenmächten und Alliierten untersucht werden.

Das Parlament und der Bundesrat reagierten mit der Einsetzung der UEK auf Kritik von amerikanischen Medien, Anwält:innen und jüdischen Organisationen: Die Schweiz habe – so ihre Einschätzung – nicht nur mit den Nazis kollaboriert und daraus Profit geschlagen, sondern auch durch ihre wirtschaftlichen und finanziellen Verknüpfungen mit den Achsenmächten einen nicht zu vernachlässigenden Beitrag zur Verlängerung des Zweiten Weltkrieges geleistet. Das Parlament und der Bundesrat beschlossen, dass den Vorwürfen um Opfergold, Raubgoldkäufe und schweizerischer Flüchtlingspolitik, die schon seit Kriegsende bestanden, nachgegangen werden sollte. Die Rolle der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs sollte beleuchtet werden.

Weithin wurde die Situation in den 1990er Jahren als innen- wie aussenpolitische Krise wahrgenommen. Mitglieder der Schweizer Regierung versäumten es, die moralische und symbolische Dimension der Situation angemessen zu berücksichtigen. So beschuldigte der damalige Bundespräsident Jean-Pascal Delamuraz beispielsweise jüdische Organisationen der Erpressung ‒ eine Aussage, die einen internationalen Aufschrei provozierte. Weiter vermutete er eine jüdisch-anglo-amerikanische Verschwörung, die darauf abziele, den Finanzplatz Schweiz zu zerstören. Delamuraz bezog sich in seinen Anschuldigungen nicht auf einzelne Akteur:innen, sondern auf «das jüdische Kollektiv». Im Zuge dieser Debatte kam es ferner zu einem Anstieg von Antisemitismus in der Schweiz. Jüdische Zeitungen sowie prominente jüdische Akteur:innen erhielten Hunderte von Briefen, in denen sie bedroht und beschimpft wurden. Viele ältere Jud:innen empfanden die Lage als so bedrohlich wie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr. Einige Schweizer Berichterstatter:innen schoben in Folge jüdisch-amerikanischen Organisationen die Schuld für den Anstieg des Antisemitismus in der Schweiz zu. Diese – so der Vorwurf – hätten mit ihren unangebrachten Klagen und aggressiven Strategien Antisemitismus provoziert.

Die durch die Arbeit der UEK ausgelösten Kontroversen führten dazu, dass der während langer Zeit versteckte Antisemitismus mit weiteren abstrusen Verschwörungstheorien verschmolz. Die Schweiz wurde durch die Resultate der UEK mit einer Vergangenheit konfrontiert, die bis zu diesem Zeitpunkt keinen Eingang in das vorherrschende Geschichtsbild gefunden hatte. Das nationale Selbstverständnis wurde durch die Arbeit der UEK in Frage gestellt. Ersteres hatte bis anhin auf der Überzeugung aufgebaut, die Schweiz sei wegen ihres Widerstandswillens und ihrer klugen Politik vom Krieg verschont geblieben, während die engen wirtschaftlichen Verflechtungen mit den Achsenmächten keinen Eingang ins kollektive Gedächtnis der Nation gefunden hatten.

Die Veröffentlichung des Bergier-Berichts löste in der Schweiz Debatten über die Unmoral der Schweizer Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkriegs aus. Diskutiert wurde vor allem die Mitschuld am weiteren Schicksal jüdischer Flüchtlinge nach deren Abweisung an den Schweizer Grenzen. Ein Streitpunkt war unter anderen die von der UEK festgestellte Höhe der Zahl der an den Grenzen abgewiesenen jüdischen Flüchtlinge. Die Schweizerische Volkspartei (SVP) hielt den Bundesrat beispielsweise dazu an, den Flüchtlingsbericht zurückzuweisen, damit er neu überarbeitet würde, da die UEK ihrem Auftrag nicht entsprechend nachgekommen sei. Auf die Veröffentlichung des Bergier-Berichts folgten verschiedene Gegendarstellungen, unter anderen eine aus der Feder des Auschwitz-Leugners Jürgen Graf. Besonders Vertreter:innen der Aktivdienstgeneration, so beispielsweise der «Arbeitskreis Gelebte Geschichte» (AGG), versuchten ihr eigenes Geschichtsbild in Publikationen zu verfechten und die Ergebnisse des Bergier-Berichts zu entkräften. 2006 wurde im Kanton Zürich ein neues Lehrmittel für Geschichte entwickelt, das sich stark auf den Bergier-Bericht stützte. Der SVP-Nationalrat Luzi Stamm kritisierte dessen vermeintlichen «selbstanklägerischen Grundton» und ein damit vermitteltes «verfehltes Geschichtsbild».

© GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus, 2019, unter Mitarbeit von Alice Bloch, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Zentrums für Jüdische Studien in Basel.

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24.03.2025

Lesung und Gespräch zu «Gojnormativität. Warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen.»

Am 8. Mai 2025 sprechen Judith Coffey und Vivien Laumann im Zollhaus Zürich über ihr Buch «Gojnormativität. Warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen».

Im Buch loten die Autorinnen das Verhältnis von Jüdischsein und weiss-Sein aus und gehen der spezifischen Unsichtbarkeit von Juden:Jüdinnen in der Mehrheitsgesellschaft nach. In Anlehnung an das Konzept der Heteronormativität erlaubt «Gojnormativität», Dominanzverhältnisse in der Gesellschaft zu befragen und so ein anderes Sprechen über Antisemitismus zu etablieren.

Das Buch ist eine Aufforderung zu einem bedingungslosen Einbeziehen von Juden:Jüdinnen in intersektionale Diskurse und Politiken und zugleich ein engagiertes Plädoyer für solidarische Bündnisse und Allianzen.

Wann: 8. Mai 2025 um 19:00 Uhr
Wo: Zollhaus Zürich / online mit Livestream
Sprache: Deutsch und Verdolmetschung in Gebärdensprache (auf Anfrage)
Moderation: Prof. Dr. Amir Dziri
In Kooperation mit: ZIID und feministisch*komplex

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