Das Konzept des jüdischen Volkes als das von Gott auserwählte Volk gründet im Bund Gottes mit Abraham und der Offenbarung der Thora am Berg Sinai. Die Vorstellung der Auserwählung hat sich historisch entwickelt und ist auch heute kein monolithisches Konzept. Sie unterscheidet sich je nachdem, in welchem Kontext, zu welchem Zweck und von wem sie geäussert wird.
Das Konzept von Auserwählung und Einzigartigkeit gibt es nicht nur in monotheistischen Religionen und dort nicht nur im Judentum. Die frühe Kirche hat sich als Nachfolgerin Israels definiert; das jüdische Volk habe durch die Zurückweisung Jesu seine Erwählung verwirkt und diese sei auf die Kirche übergegangen. Anders als im christlichen Konzept der Erwählung und im islamischen Anspruch auf absolute Wahrheit bezieht sich Auserwählung im Judentum aber auf das jüdische Kollektiv und nicht auf Individuen, die dem wahren Glauben anhängen. Damit begründet die Erwählungsvorstellung die dem Judentum eigene Verbindung von Nation und Religion.
Die Auserwählung Israels und die spezielle Bindung zwischen dem jüdischen Volk und Gott werden in allen religiösen Richtungen des Judentums als Traditionsbestand anerkannt. Viele noch heute in der Liturgie verwendeten Gebetstexte enthalten die Wendung «Ascher bachar banu» («Der uns erwählt hat»). Aber je nach religiöser, politischer oder traditioneller Strömung existieren unterschiedliche Konzepte der Auserwählung heute nebeneinander.
In vormodernen Zeiten verstanden Jud:innen die Auserwählung als gottgegebene Eigenschaft, als Heiligkeit des jüdischen Volkes. Im 4. Buch Mose heisst es: «Denn ein heiliges Volk bist du dem Ewigen deinem Gott; dich hat erkoren der Ewige dein Gott, ihm zu sein zum Volke des Eigentums vor allen Völkern, die auf der Fläche des Erdbodens» (Deut. 7,6). Freilich verträgt sich diese Vorstellung der Heiligkeit nur schwer mit einem universellen Gleichheitsgedanken. Im Zuge der Aufklärung und der Moderne stiess sie daher auf Widerstand – auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft. Das Konzept der Auserwählung wurde zunehmend universalistisch gefasst. Die meisten modern-religiösen Jud:innen verstehen heute Auserwählung als moralische Verantwortung und nicht als Auszeichnung oder Hervorhebung. Diese Verantwortung wird nicht durch Geburt oder Konversion verliehen, sondern muss aktiv übernommen werden. Grundlegend für diese Interpretation ist die Fortsetzung der oben zitierten Textstelle: «So erkenne, dass der Ewige dein Gott, der Gott ist […], der bewahrt den Bund und die Gnade denen, welche ihn lieben und seine Gebote halten» (Deut. 6,9; 11). Viele säkulare Jud:innen begreifen die jüdische Gemeinschaft heute weder aus ethnisch-partikularistischer noch aus religiös-spiritueller Sicht als auserwählt, verstehen aber die jüdische Geschichte und insbesondere die Schoah als Ausdruck von Einzigartigkeit.
Dass die Vorstellung der Jud:innen als auserwähltes Volk von antisemitischer Seite heftig angegriffen wurde und wird, versteht sich von selbst. Dabei geht es den Antisemit:innen jedoch nicht um das Verwerfen der Auserwählung im Namen der Gleichheit aller Menschen, sondern um die Ungleichheit der Jud:innen mit umgekehrtem Vorzeichen: An die Stelle der Auserwählung tritt aus antisemitischer Sicht Minderwertigkeit und negative Aussonderung.
© GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus, 2015