Was ist Antisemitismus?
Wissenschaftlicher Arbeitsbegriff: Handlungen und Einstellungen
Es gibt unterschiedliche Definitionen für den Begriff Antisemitismus. Im Kern haben sie alle gemeinsam, dass es um Anfeindungen gegen jüdische Vertreter:innen, Institutionen oder Einrichtungen geht, die mehr oder weniger offen zu Tage treten. Die allerwenigsten, die antisemitische Vorurteile verinnerlicht haben, sind einmal «einer:m Jud:in» im Alltag begegnet oder wissen etwas über das Judentum und seine Geschichte. Das Problem beim Antisemitismus ist, dass er ohne reale Menschen funktioniert. Er baut auf Vorstellungen über «Jud:innen» auf. Antisemitismus hat somit unterschiedliche Erscheinungsformen und funktioniert unabhängig vom Verhalten jüdischer Menschen; er ist eine Projektion derjenigen, die antisemitisch eingestellt sind.
2005 wurde von der EU und der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) versucht, eine Arbeitsdefinition für Antisemitismus zu erstellen. Das Ziel war es, antisemitische Vorfälle besser zu erkennen, zu dokumentieren, aber auch zu verhindern. Erstellt wurde sie vom European Monitoring Center on Racism and Xenophobia (Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit; heute Fundamental Rights Agency/Agentur der Europäischen Union für Grundrechte) und dem Office for Democratic Institutions and Human Rights der OSZE.
Im Mai 2016 wurde diese Definition von der International Holocaust Remembrance Alliance IHRA, welcher 31 europäische Staaten angehören, darunter auch die Schweiz, als «Working Definition» angenommen und als Arbeitsdokument implementiert.
Die IHRA definiert Antisemitismus wie folgt:
«Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort und Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen und religiöse Einrichtungen.»
Hier der Link zur Arbeitsdefinition von Antisemitismus der IHRA: https://www.holocaustremembrance.com/de/node/196
Diese Arbeitsdefinition ist praxisorientiert und wird von NGOs (Nichtregierungsorganisationen), aber auch von Regierungen verwendet, um antisemitische Vorfälle erfassen zu können und um gesetzgeberische Massnahmen formulieren zu können (vgl. dazu weiterführend in der Schweiz: Anitsemitismusbericht).
Darüber hinaus können sich Erscheinungsformen von Antisemitismus auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten. Die Kritik am Staat Israel beziehungsweise an seiner Politik ist nicht generell antisemitisch, solange man diese Kritik so äussert, wie man sie auch gegenüber allen anderen Staaten äussern würde (vgl. dazu weiter unten im Text «Kritik am Staat Israel»).
Erläuternde Beispiele für Antisemitismus sind:
- Der Aufruf zur Tötung oder Schädigung von Jud:innen im Namen einer radikalen Ideologie oder einer extremistischen Auffassung von Religion sowie die Beihilfe zu solchen Taten oder ihre Rechtfertigung.
- Falsche, entmenschlichende, dämonisierende oder stereotype Anschuldigungen gegen Jud:innen oder die Macht der Jud:innen als Kollektiv – insbesondere, aber nicht ausschliesslich die Mythen über eine jüdische Weltverschwörung oder über die Kontrolle der Medien, Wirtschaft, Regierung oder anderer gesellschaftlicher Institutionen durch die Jud:innen.
- Das Verantwortlichmachen der Jud:innen als Volk für tatsächliches oder unterstelltes Fehlverhalten einzelner Jud:innen, einzelner jüdischer Gruppen oder sogar von Nicht-Jud:innen.
- Das Bestreiten der Tatsache, des Ausmasses, der Mechanismen (z.B. der Gaskammern) oder der Vorsätzlichkeit des Völkermordes an den Jud:innen durch das nationalsozialistische Deutschland und seine Unterstützer und Komplizen während des Zweiten Weltkrieges (Holocaust).
- Der Vorwurf gegenüber den Jud:innen als Volk oder dem Staat Israel, den Holocaust zu erfinden oder übertrieben darzustellen.
- Der Vorwurf gegenüber Jud:innen, sie fühlten sich dem Staat Israel oder angeblich bestehenden weltweiten jüdischen Interessen stärker verpflichtet als den Interessen ihrer jeweiligen Heimatländer.
- Das Absprechen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z.B. durch die Aussage, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen.
- Das kollektive Verantwortlichmachen von Jud:innen für Handlungen des Staates Israel.
Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus der deutschen Bundesregierung hat diese Definition um eine wissenschaftliche Ebene erweitert, da Antisemitismus vielfältige Formen annehmen kann (der Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus ist hier abrufbar).
So beginnt Antisemitismus nicht erst bei den Handlungen, sondern meist unterbewusst, wenn stereotype Meinungen und Bilder verwendet werden oder gewisse Vorbehalte gegen eine Person gehegt werden, die vielleicht diffus erscheinen mögen. Im Gegensatz zu einer bewussten antisemitischen Einstellung kommt diese Form des Antisemitismus sehr häufig vor und schafft ein soziales Klima, das nicht sofort bewusst wahrgenommen wird. So können Witze oder Anspielungen bereits schrittweise ein antisemitisches Klima stärken. Einstellungen führen zu Äusserungen und diese können wiederum zu Handlungen führen. Sobald die Stufe der Handlung erreicht ist, seien es diskriminierende Forderungen nach Benachteiligungen oder Angriffe auf Menschen, Dinge oder Gebäude, liegt ein gewalttätiger Antisemitismus vor.
Formen des Antisemitismus
Antisemitismus ist eine Art der Diskriminierung, und weist einige formale Gemeinsamkeiten mit anderen Diskriminierungen auf: Der:die Einzelne wird nicht als Individuum, sondern als Angehörige:r eines konstruierten oder realen Kollektivs gesehen.
Dennoch ist Judenfeindlichkeit kein homogenes Phänomen. So kann sie auch Bestandteil anderer Diskriminierungsformen sein, aber auch in Form einer umfassenden Weltanschauung auftreten. Besonders ist die den Jud:innen gegenüber gemachten Pauschalisierungen hervorzuheben: «der:die Jud:in» ist «arm» und «reich», «elitär» und «minderwertig», «kapitalistisch» und «kommunistisch». Ein Alleinstellungsmerkmal unter den Formen der Menschenfeindlichkeit ergibt sich beim Antisemitismus durch die Folgewirkungen, die ihren tragischen Höhepunkt in den Massenmorden im Zweiten Weltkrieg fanden. Erklärtes Ziel und im Sinne des politischen Willens des Nationalsozialismus war es, alle Angehörigen einer sozialen Gruppe, unabhängig von ihren individuellen Einstellungen und Handlungen, allein und ausschliesslich aufgrund dieser Zugehörigkeit zu töten.
Es lassen sich abstrakt und theoretisch fünf Kategorien des Antisemitismus definieren, die als Werkzeug zum Verständnis der Ideologieformen dienen können. Bei den heute auftretenden Formen der Judenfeindschaft/-feindlichkeit handelt es sich allerdings fast immer um eine Mischung verschiedener antisemitischer Stereotype und Vorurteile.
- Religiöser Antisemitismus
Religiöser Antisemitismus entwickelte sich aus der Absolutsetzung der christlichen Auffassung von Religion, die mit der Ablehnung und Diffamierung aller anderen Glaubensformen einhergeht. Jud:innen werden bereits im Neuen Testament als «Söhne des Teufels» bezeichnet und die Behauptung der Schuld am Tode Jesu hat sich als «Gottesmord» in der Glaubensauffassung von vielen Christ:innen festgesetzt.
- Sozialer Antisemitismus
Die Annahme eines besonderen sozialen Status’ von Jud:innen in der Gesellschaft bildet hier das Grundmotiv. Notgedrungen mussten Jud:innen im Mittelalter auf den Geldverleih und den Handel ausweichen, und galten fortan als ausbeuterische und unproduktive «Wucherer:innen» und «Händler:innen». Unreflektiert blieb dabei, dass der berufliche und soziale Status bereits durch Ausgrenzung entstanden war.
- Politischer Antisemitismus
Diese Form speist sich aus der Vorstellung, dass jüdische Menschen sich in politischer Absicht zu einem homogenen Kollektiv mit einflussreicher sozialer Macht zusammenschliessen. Unterstellt wird, durch geheime Planung in Form einer Verschwörung die Herrschaft in dem jeweiligen Land oder der ganzen Welt erlangen zu wollen. Die Behauptung der «jüdischen Weltverschwörung», die «hinter den Kulissen» wirke, ist dabei konstitutiver Bestandteil.
- Nationalistischer Antisemitismus
Jüdische Menschen werden hier als eine ethnisch, kulturell, oder sozial nicht zur jeweiligen Nation gehörenden Minderheit betrachtet. Sie sind dabei nicht zwingend fremd, aber «anders» und stellen «Dritte» dar. Sie werden entsprechend als Fremdkörper und aufgrund ihres Status als «Dritte» der Illoyalität gegenüber der jeweiligen Nation beschuldigt.
- Rassistischer Antisemitismus
Verwandt mit dem nationalistischen Antisemitismus, aber dennoch davon zu unterscheiden. Die Besonderheit des rassistischen Antisemitismus besteht darin, dass er alle jüdischen Menschen von Natur aus negativ bewertet und sie weder durch die Abkehr von ihrer Religion, noch durch ein anderes Verhalten dieser Bewertung entgehen können. Er suggeriert den Unterschied verschiedener «Rassen», so z.B. «German:innen» und «Jud:innen», woran später die Nationalsozialist:innen ihre Ideologie knüpften. Diese Form des Antisemitismus trat im 19. Jahrhundert auf.
Kritik am Staat Israel
Gerade in Bezug auf Israel ist manchmal schwer zu unterscheiden, ob die Politik eines Landes kritisiert wird oder ob es sich schon um antisemitische Äusserungen handelt. In jüngster Vergangenheit wurde und wird die Kritik am Staat Israel genutzt, um eine Rechtfertigung zu haben, jüdische Personen abzuwerten oder den Holocaust zu relativieren. Dabei wird Israel als jüdisches Kollektiv verstanden, um modern geformte Varianten von uralten Konzepten des Antisemitismus zu produzieren. Das führt dazu, dass jüdische Menschen für Handlungen des Staates Israel verantwortlich gemacht oder beschimpft werden. Gemäss aktuellsten wissenschaftlichen Studien zum Thema folgt israelbezogener Antisemitismus dabei immer einer Adaptionslogik: Im Laufe der Jahrhunderte hat das «Chamäleon Judenhass» sich stets den sozial-politischen Gegebenheiten und gesellschaftlichen Normen angepasst, um ohne Bruch und ohne Zweifel das zugrunde liegende Glaubens- und Weltdeutungssystem aufrechtzuerhalten und der jeweils neuen Situation anpassen zu können (vgl. ausführlich Monika Schwarz-Friesel, Antisemitismus 2.0 und die Netzkultur des Hasses, hier abrufbar).
Eine Richtschnur könnte der sogenannte «3D-Test» des ehemaligen israelischen Ministers Natan Sharansky sein. Kann zu einer Aussage eine oder mehrere der folgenden drei Fragen mit «Ja» beantwortet werden, kann die Kritik nicht mehr als konstruktiv aufgefasst werden:
- Dämonisierung des Staates Israel? (Beispiel: Israel ist grundsätzlich ein schlechter Staat oder masslose Übertreibung seiner Taten, zum Beispiel durch Vergleiche mit den Nazis)
- Wird ein Doppelstandard angelegt? (Beispiel: Die gleichen Handlungen werden bei Israel als schlecht, bei anderen Staaten als gut/neutral bewertet; also Doppelmoral in der Beurteilung des Staats Israel, etwa wenn die UNO das Land wegen Menschenrechtsvergehen verurteilt, während andere Länder und ihre Taten, z.B. China, Syrien oder Iran, unerwähnt bleiben).
- Delegitimierung des Staates Israel, also wenn diesem das Existenzrecht abgesprochen wird. (Beispiel: Israel darf gar nicht existieren/soll nicht mehr existieren).
Kritik am Staat Israel, beziehungsweise an seiner Politik wird somit antisemitisch durch das Anwenden von doppelten Standards sowie das Einfordern eines Verhaltens, wie es von keiner anderen demokratischen Nation erwartet oder gefordert wird und wenn «Israelis» und «Jud:innen» gleichgesetzt werden. Oder wenn Symbole und Bilder des klassischen Antisemitismus benutzt werden, um Israel oder Israelis darzustellen bzw. zu charakterisieren; etwa durch das Verwenden von Symbolen und Bildern, die mit traditionellem Antisemitismus in Verbindung stehen (z.B. der Vorwurf des Christusmordes oder die Ritualmordlegende), um Israel oder die Israelis zu beschreiben sowie Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialist:innen.
Philosemitismus in rechtspopulistischen Parteien
Seit einigen Jahren ist zu hören, wie sich rechtspopulistische Parteien zum «christlich-jüdischen Abendland» bekennen und sich vorgeblich gegen Antisemitismus einsetzen. Der Begriff «christlich-jüdisches Abendland» verschleiert, beschönigt und verhöhnt die Geschichte der jüdischen Minderheit in Europa. Das Vorgeben von Toleranz und Weltoffenheit, in Form des Philosemitismus (was in etwa bedeutet, eine wohlgesinnte Haltung gegenüber allem Jüdischen zu haben), wird aus verschiedenen Gründen praktiziert. Dabei stehen eigene Interessen im Vordergrund und nicht das aufrichtige Interesse an dem Gegenüber (vgl. statt vieler Loewy, Hanno (Hg.): Gerüchte über die Juden. Antisemitismus, Philosemitismus und aktuelle Verschwörungstheorien. Klartext-Verlagsgesellschaft. Essen 2005. Unter anderem aus ders.: Kugelmann, Yves. Mit freundlichem Shalom in die Hölle. S. 271-285). Nach der Beschwörung der (angeblichen) christlich-jüdischen Gemeinsamkeit folgen meist Behauptungen, die sich gegen den muslimischen Glauben richten. Interreligiöse Projekte oder Projekte, die gemeinsam Vorurteile und Rassismus überwinden wollen, werden nicht erwähnt oder treten dabei in den Hintergrund. Die Argumente zielen darauf ab, Gruppen aufgrund eines Merkmals zu konstruieren und gegeneinander aufzubringen.
Für dialogisch-interreligiöse Projekte in der Schweiz siehe beispielsweise: NCBI. Respect. Muslim- und Judenfeindlichkeit gemeinsam überwinden. In: www.ncbi.ch/de/projekte/vorurteile-abbauen/respect/ sowie die Projekte und Veranstaltungen des ZIID Zürcher Institut für interreligiösen Dialog (bis 2015 Zürcher Lehrhaus), welches als Bildungsinstitution dem Dialog dient. Es ist ein Ort, an dem sich Menschen verschiedenster Herkunft mit jüdischer, christlicher und islamischer Kultur, Religion, Geschichte und Gegenwart auseinandersetzen und auf diese Art voneinander und miteinander lernen (www.ziid.ch).
Siehe zum Ursprung des Wortes Antisemitismus hier.
© GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus, 2019, unter Mitarbeit von Samuel Egli und Kathrin Schwarz, wissenschaftliche Mitarbeiter des Zentrums für Jüdische Studien in Basel.
Fischhof-Preis prämiert zwei Politiker:innen und eine Aktivistin
Bei der diesjährigen Verleihung des Fischhof-Preises wurden erstmals drei Persönlichkeiten gleichzeitig für ihren Einsatz gegen Rassismus und Antisemitismus ausgezeichnet. Die Preisträger:innen sind alt SP-Nationalrat Angelo Barrile, Mitte-Ständerätin Marianne Binder-Keller und Theologin Nicola Neider Ammann. Im Gespräch mit Moderator David Karasek reflektierten sie über ihre Arbeit, ihre Motivation sowie ihre Sorgen und Ängste – doch auch über ihre Hoffnungen, die trotz aller Herausforderungen spürbar waren.
Alt Bundesrat Moritz Leuenberger sprach ebenfalls mit David Karasek und fragte selbstkritisch: «Bin ich vielleicht selbst antisemitisch, ohne es zu merken?» Er machte darauf aufmerksam, wie tief Rassismus und Antisemitismus in der Gesellschaft verankert sind und wie selten diese Mechanismen hinterfragt werden. Bewegende Laudationen von SP-Nationalrätin Priska Seiler Graf, alt SIG-Präsident Herbert Winter und alt Grünen-Nationalrätin Cécile Bühlmann würdigten die Leistungen der Preisträger:innen eindrücklich.
Der Fischhof-Preis setzt auch 2024 ein starkes Zeichen gegen Diskriminierungen aller Art und bietet ein Gegennarrativ zu den Stimmen, die behaupten, das «Böse» sei unaufhaltsam. Die GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus und die GMS Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz vergeben den Fischhof-Preis, um denjenigen Personen eine Bühne zu geben, die sich für Gerechtigkeit, Demokratie und Inklusion einsetzen.
Eine fotografische Rückschau finden Sie hier.
Foto: Alain Picard