In der Schweiz leben Menschen im Jenseits – Ein Besuch in einer Notunterkunft für abgewiesene Geflüchtete
25.08.2019

von Ron Halbright*

Kennen Sie junge Menschen in der Schweiz, die plötzlich ihre Ausbildung abbrechen müssen, obwohl der Lehrmeister sie behalten möchte…, die Jahre in der Schweiz fast ohne Rechte leben…,  die in ständiger Angst leben, verhaftet, gebüsst oder inhaftiert zu werden, nur weil sie zufälligerweise von der Polizei kontrolliert werden?

Ich habe kürzlich solche Menschen kennengelernt. Sie sind abgewiesene Geflüchtete aus Eritrea und anderen Ländern. Die Schweiz hat in der letzten Zeit die Asylpraxis für Eritreer verschärft, obwohl kein Land in Europa Eritreer zwingt, zurückzukehren. Es gibt viele junge eritreische Leute, die sich jahrelang stark um ihre Integration bemüht haben und die plötzlich einen Negativentscheid erhalten. 

Die Notunterkunft ist abgeschottet, kein Mensch würde sie einfach zufällig wahrnehmen. Die Menschen, die dorthin zugeteilt worden sind, will der Staat in der Tat abschotten, damit niemand sie einfach zufällig wahrnimmt. Das klappt ziemlich gut. Wie viele Leute wissen denn schon, wie die mehrere tausend Abgewiesenen in der Schweiz leben?
Ich war vorher noch nie in einer Notunterkunft, einem Ort für abgewiesene Geflüchtete, d.h. für Menschen, die die Schweiz als «illegal» betrachtet. Ich kann nicht erklären, warum es so lange gedauert hat, bis ich einen solchen Ort besucht habe. Ich arbeite seit langem mit Geflüchteten. Meine Eltern waren Geflüchtete und mein Vater war sogar ein unbegleiteter Minderjähriger (UMA) in einem Kinderheim in Ascona während des Holocaust.
Vielleicht dachte ich, es wäre schon genug, die «legal» Geflüchteten zu unterstützen. Vielleicht wollte ich mich nicht mit der Unmenschlichkeit der Schweiz (als Staat) und den dazugehörigen Schweizerinnen und Schweizern (inklusive mir selber) konfrontieren. Oder mit der Hoffnungslosigkeit der Abgewiesenen – und von mir selber?
Ich kenne sehr viele Geflüchtete ‒ insbesondere eritreische, afghanische und syrische ‒ und weiss einiges über ihre Situation. Dass die Schweiz immer mehr Eritreer unter Druck setzt, «freiwillig» nach Hause zu reisen, schockiert mich. Berichte von Menschenrechtsorganisationen und in Schweizer Zeitungen sowie Aussagen der zuständigen Bundesrätin Karin Keller-Suter sind sich einig: kein Land in Europa zwingt Menschen, nach Eritrea zu gehen. Die Schweiz hat aktuell nur eine Möglichkeit, um Eritreer zur Ausreise zu bewegen: das Leben der Betroffenen in der Schweiz so miserabel zu machen, dass sie in Eritrea die Möglichkeit eines unbefristeten Gefängnisaufenthalts an einem unbekannten Ort (ohne Besuch von Familie oder Menschenrechtsorganisationen) und danach unbefristeter Fronarbeit im Militär in Kauf nehmen würden. 2018 waren es gemäss dem Bund nur 86 Eritreer, die «freiwillig» zurückgekehrt sind.
Um das alles besser zu verstehen, habe ich vor wenigen Tagen eine Notunterkunft besucht. Hier ein paar Eindrücke aus Gesprächen mit männlichen Bewohnern aus verschiedenen Ländern:
Ich begegne jungen Männern, die eigentlich eine Ausbildung absolvieren sollten. Einige sind als Minderjährige alleine in die Schweiz gekommen, haben zuerst einen besonderen Schutz genossen, nun aber nicht mehr. Sie reden mehr oder weniger gut Deutsch, wir können uns gut verständigen. Sie sind wach, engagiert und gleichzeitig überfordert. Sie haben während drei Jahren in der Schweiz nie offizielle, sondern nur von Freiwilligen geführte Deutschkurse besucht.
Der Negativentscheid und die Abweisung belasten die jungen Männer sehr. Die Lebensbedingungen sind öde. Einer bekommt seit dem Negativentscheid Medikamente, da er unter «Gedankenkreisen» leidet. Einer seiner Kollegen ist vor einigen Monaten nach Eritrea zurückgegangen, seither hat er nichts mehr von ihm gehört; sie sagen, er war vorher psychisch krank und konnte den Druck nicht mehr aushalten. Ein andererseits nach England gereist und wurde unter Gewalt zurückgebracht.
Die jungen Männer versuchen, ihre Situation positiv zu betrachten und jeden Tag etwas zu unternehmen. Sie vermeiden es, an die Zukunft zu denken, insbesondere wenn sie sehen, wie die Langzeitinsassen nach einem Jahrzehnt auf Nothilfe unter psychischen Problemen leiden. Ihre Kontakte zur Wohnbevölkerung, zu ihrem Freundeskreis, die Treffpunkte in der Stadt geben Halt, eine gewisse Lebensqualität und Möglichkeiten zum Ausruhen – diese sind für sie lebensnotwendig.
Sie verstehen nicht, warum sie nach rund drei Jahren in der Schweiz an diesem Ort gelandet sind. Ihre Geschichten sind nicht anders als bei ihren Kollegen mit einem positiven Entscheid. Einer behauptet, er hätte Pech gehabt, da die Richter bei seinem Rekurs-Entscheid einer ausländerfeindlichen Partei angehört hätten. Alle sind überzeugt, dass sie nie freiwillig zurückkehren werden. Sie leben in Angst vor der Polizei, die sie zu jeder Zeit kontrollieren und für ein paar Tage oder länger inhaftieren kann. Manchmal werden die Handschellen zu eng gebunden, manchmal versucht die Polizei sie einzuschüchtern. Am schlimmsten sind die Bussen wegen illegalen Aufenthalts: Diese können 800 oder 1300 Franken betragen. Woher sollen sie das Geld dafür nehmen, wenn sie mit 60 Franken pro Woche für Essen, ÖV, Kleider, Seife etc. leben sollten? Sie dürfen weder arbeiten noch an den staatlichen Integrationsprogrammen teilnehmen, die sie bis vor kurzem besucht haben. Einer ist Sportler, trainierte sechsmal die Woche. Seit er keinen gültigen Ausweis mehr besitzt, darf er nicht mehr an Wettkämpfen teilnehmen.
In und um die Notunterkunft gibt es so viel Lärm, dass man kaum schlafen kann. Wer aber morgens und abends nicht unterschreibt, bekommt das bescheidene Taggeld nicht. Wer eine Woche abwesend ist, verliert das Recht auf ein Bett und minimale Gesundheitsvorsorge.
Sie suchen Beschäftigung, möchten freiwillig arbeiten, um eine Tagesstruktur zu haben. Etwas Geld wäre auch hilfreich. Das alles aber ist in ihrer Lage illegal. Ich suche nach Möglichkeiten: Ein Begegnungsprojekt mit Arbeitseinsätzen in den Bergen nimmt Geflüchtete auf – aber nicht Abgewiesene, sonst würde sich die Organisation evtl. strafbar machen. Ich möchte Abgewiesene zu einem Treffen in der Stadt einladen: Die Polizei informiert mich, dass ich mich eventuell dadurch strafbar machen würde, wenn sie aus der Stadt polizeilich ausgegrenzt wären, da ein Gesetz (Art. 116 AIG) die Beihilfe zu illegalem Aufenthalt verbietet.

Hast du schon eine Notunterkunft besucht? Würdest du gerne Abgewiesene bei einem Anlass kennenlernen und von ihnen über ihre Situation erfahren? Das könnten wir gut und gerne mit euch organisieren. Bitte nimm mit mir Kontakt auf. Meine Email lautet: ncbiron@sunrise.ch

*Ron Halbright brachte die Methodik des National Coalition Building Institute (NCBI) anfangs der 90er Jahre aus den USA in die Schweiz. Sein Zweitstudium an der Universität Zürich hat er 1999 in Pädagogik und Ethnologie abgeschlossen. Er ist heute Ko-Geschäftsleiter von NCBI Schweiz. Er leitet ausserdem die Sektion Zürich und ist Vorstandsmitglied des Netzwerks Schulische Bubenarbeit NWSB und des Vereins Migration & Menschenrechte.

 

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Ein Ausschnitt aus dem Flyer des Programms der Ringvorlesung. Darauf zu sehe ist das Logo der Universität Zürich sowie der Titel der Ringvorlesung: Antisemitismus.
05.09.2024

Ringvorlesung «Antisemitismus» der Sigi Feigel-Gastprofessur für Jüdische Studien

Wann: Jeweils montags zwischen 18.15 bis 19.45 Uhr
Daten: 23.09./14.10./28.10/04.11/18.11./2.12./16.12.
Ort: Universität Zürich, Rämistrasse 71, Raum: KOH-B-10

Seit dem Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat der Begriff des Antisemitismus in öffentlichen Debatten wieder hörbar Eingang gefunden. Doch wird nicht nur mit Blick auf dieses Ereignis und seine Folgen über Antisemitismus diskutiert. Jüdische Menschen in der ganzen Welt sind seit dem Herbst 2023 vermehrt antisemitischen Anfeindungen in allen Formen ausgesetzt. Während Jüdinnen und Juden auf diese Weise unmittelbar von Antisemitismus betroffen sind, werden andere im öffentlichen Diskurs wiederum als antisemitisch bezeichnet, wenn sie beispielsweise eine «israelkritische» Stellung zur Lage in Nahost beziehen.

Antisemitismus ist kein neues Phänomen. Der Hass gegen jüdische Menschen blickt auf eine lange (Leidens-)Geschichte zurück, die nun wieder aktuell geworden ist. Die Ringvorlesung analysiert Begriff, Geschichte und Ausdrucksformen des Antisemitismus und lässt Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Gesellschaft zu Wort kommen, die historische Hintergründe, psychologische und rechtliche Dimensionen, ideologische und politische Erscheinungen sowie persönliche Erfahrungen vorstellen.

Die Ringvorlesung wird in Kooperation mit der Gamaraal Foundation veranstaltet (www.last-swiss-holocaust-survivors.ch).

Der Eintritt ist frei.

Weitere Informationen finden Sie im Veranstaltungsflyer.

 

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