Überfremdung

Weitere Begriffe zum Thema Diskriminierung und Verfolgung von Minderheiten:

Der Begriff «Überfremdung» drückt eine Abwehrhaltung gegen die Einwanderung von Ausländer:innen aus. Dahinter steht die Vorstellung, die ausländische Wohnbevölkerung könnte die Identität und Sicherheit der Schweiz gefährden.   

Der Begriff «Überfremdung» ist eine Schweizer Erfindung: Im Jahr 1900 prägte ihn Carl Alfred Schmid, ein Zürcher Armensekretär (Sozialfürsorger), in seinem Aufsatz «Unsere Fremdenfrage». Schmid sprach darin von einer «so hochgradigen Überfremdung der Schweiz, dass ihre nationale Existenz nur durch ein Wunder denkbar ist». Damals lebten in der Schweiz rund 10 Prozent Ausländer:innen, vor allem Deutsche und Italiener:innen. Schmid äusserte zwei Befürchtungen: Erstens könnte Sozialfürsorge der Städte unter dem Andrang der armen Ausländerfamilien zusammenbrechen, und zweitens könnte eine überfremdete Schweiz von ihren Nachbarstaaten aufgeteilt und einverleibt werden. Trotz des alarmistischen Tons hatte Schmids Aufsatz keine breite Wirkung. Der Ausländeranteil stieg bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs auf 15,4 Prozent (Stadt Zürich 1910: 33,8 Prozent Ausländer, Basel 37,8 Prozent und Arbon 46,1 Prozent).

Das Thema «Überfremdung» wurde erst im Lauf des Ersten Weltkriegs und nach seinem Ende breiter diskutiert – dies, obwohl der Ausländeranteil inzwischen stark gesunken war. Im Krieg wuchs die allgemeine Fremdenfeindlichkeit und bekam eine deutlich rassistische Stossrichtung. Die Abwehr galt nun besonders Jud:innen, die vor Pogromen, Krieg und Revolution aus Russland in den Westen geflohen waren. Der Leiter der Polizeiabteilung im EJPD, Ernst Delaquis, schrieb 1921: «Wir müssen den fremden Ankömmling auf Herz und Nieren prüfen können. Reiht er sich ein in unser politisches, wirtschaftliches, soziales Staatsgefüge? Ist er hygienisch akzeptabel? Überschreitet seine ethnische Struktur das Mass zulässiger Inadäquanz?» Rigorose Fremdenabwehr war für Delaquis ein Kampf gegen die von ihm behauptete «Überfremdung». In Wirklichkeit sank die Ausländerquote und erreichte 1937 gerade noch 7,2 Prozent. Delaquis Nachfolger wurde 1929 Heinrich Rothmund, der als oberster Fremdenpolizist verantwortlich war für die abweisende Haltung der Schweizer Behörden gegenüber jüdischen Flüchtlingen im Zweiten Weltkrieg.

Ab den 1950er-Jahren erlaubte eine wieder liberaler gewordene Ausländerpolitik der Wirtschaft, massenweise billige Arbeitskräfte, vor allem aus Italien, in die Schweiz zu holen. Die ersten, die nun von «Überfremdung» sprachen, waren die Gewerkschaften: «Um die politische, kulturelle und sprachliche Eigenart der Schweiz zu erhalten und eine Überfremdung zu verhindern, ist der Zuzug ausländischer Arbeitskräfte einer Kontrolle zu unterstellen», mahnte 1961 der Schweizerische Gewerkschaftsbund. 1965 reichte die linksliberale Demokratische Partei des Kantons Zürich die erste Überfremdungsinitiative ein, die eine Reduktion der Ausländerquote auf 10 Prozent verlangte. Nachdem die Demokraten die Initiative auf Druck der Wirtschaft zurückgezogen hatten, lancierte James Schwarzenbach, einziger Nationalrat der Nationalen Aktion gegen die Überfremdung von Volk und Heimat, die Initiative 1968 von neuem. Nach einem erbitterten Abstimmungskampf wurde sie am 7. Juni 1970 mit 54 Prozent Nein abgelehnt.

«Überfremdung» ist seither ein Kampfbegriff der national-konservativen Rechten geblieben. Sechs weitere Überfremdungsinitiativen scheiterten in den Jahren 1974, 1977, 1981, 1988 und 2000 deutlich an der Urne. Mehr Erfolg hatten danach Initiativen mit der gleichen fremdenfeindlichen Grundhaltung, die sich aber auf bestimmte Ausländergruppen konzentrierten: Die SVP-Initiative «gegen Asylrechtsmissbrauch» wurde 2002 mit nur 50,1 Prozent Neinstimmen äusserst knapp verworfen. Dagegen fand die von SVP-Mitgliedern lancierte und gegen Muslim:as gerichtete Minarettverbotsinitiative am 29. November 2009 eine deutliche Mehrheit von 57,5 Prozent; nur vier Kantone lehnten sie ab (GE, VD, NE, BS).
Am 9. Februar 2014 hatte erstmals eine Überfremdungsinitiative Erfolg an der Urne: Die SVP-Initiative «Gegen Masseneinwanderung» wurde mit 50,3 Prozent Ja-Stimmen ganz knapp angenommen. In der Deutschschweiz lehnten nur die Kantone Zürich, Basel-Stadt und Zug die Volksinitiative ab. Die französischsprachigen Kantone dagegen sagten alle Nein. Im Tessin erzielte die Initiative mit 68,2 Prozent Zustimmung ihren grössten Erfolg. Die SVP verlangt darin «jährliche Höchstzahlen und Kontingente für erwerbstätige Ausländerinnen und Ausländer» und einen Vorrang für Schweizer:innen auf dem Arbeitsmarkt. Wie gross diese Ausländerkontingente sein können, lässt der Initiativtext offen; sie seien «auf die gesamtwirtschaftlichen Interessen der Schweiz» auszurichten. Die politische Umsetzung der neuen Verfassungsartikel 121a und 197 Ziff. 9 ist schwer. Denn die bilateralen Verträge der Schweiz mit der Europäischen Union basieren auf der Personenfreizügigkeit, und die EU betrachtet dieses Prinzip als eine zentrale Grundlage ihrer Gemeinschaft.

Am 30. November 2014 wurde aber die viel radikalere Ecopop-Initiative von allen Kantonen sehr deutlich abgelehnt (gesamte Schweiz: 74,1 Prozent Nein-Stimmen). Lanciert hatte sie die Association Ecologie et Population (Vereinigung Umwelt und Bevölkerung), kurz Ecopop. Die Volksinitiative mit dem Titel «Stopp der Überbevölkerung – zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen» verlangte, die Schweiz dürfe «infolge Zuwanderung im dreijährigen Durchschnitt nicht um mehr als 0,2 Prozent pro Jahr wachsen». Das hätte noch eine jährliche Nettozuwanderung von etwa 16’000 Personen erlaubt. Zudem schrieb die Initiative dem Bund vor, «mindestens 10 Prozent seiner in die internationale Entwicklungszusammenarbeit fliessenden Mittel in Massnahmen zur Förderung der freiwilligen Familienplanung» zu investieren. Diese sektiererisch anmutende Verknüpfung von Ökologie, Geburtenkontrolle und Fremdenabwehr lehnten offensichtlich auch viele Stimmbürger:innen ab, die neun Monate zuvor der SVP-Initiative «Gegen Masseneinwanderung» zugestimmt hatten.

© GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus, 2015

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Fischhof-Preis prämiert zwei Politiker:innen und eine Aktivistin

Bei der diesjährigen Verleihung des Fischhof-Preises wurden erstmals drei Persönlichkeiten gleichzeitig für ihren Einsatz gegen Rassismus und Antisemitismus ausgezeichnet. Die Preisträger:innen sind alt SP-Nationalrat Angelo Barrile, Mitte-Ständerätin Marianne Binder-Keller und Theologin Nicola Neider Ammann. Im Gespräch mit Moderator David Karasek reflektierten sie über ihre Arbeit, ihre Motivation sowie ihre Sorgen und Ängste – doch auch über ihre Hoffnungen, die trotz aller Herausforderungen spürbar waren.  

Alt Bundesrat Moritz Leuenberger sprach ebenfalls mit David Karasek und fragte selbstkritisch: «Bin ich vielleicht selbst antisemitisch, ohne es zu merken?» Er machte darauf aufmerksam, wie tief Rassismus und Antisemitismus in der Gesellschaft verankert sind und wie selten diese Mechanismen hinterfragt werden. Bewegende Laudationen von SP-Nationalrätin Priska Seiler Graf, alt SIG-Präsident Herbert Winter und alt Grünen-Nationalrätin Cécile Bühlmann würdigten die Leistungen der Preisträger:innen eindrücklich. 

Der Fischhof-Preis setzt auch 2024 ein starkes Zeichen gegen Diskriminierungen aller Art und bietet ein Gegennarrativ zu den Stimmen, die behaupten, das «Böse» sei unaufhaltsam. Die GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus und die GMS Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz vergeben den Fischhof-Preis, um denjenigen Personen eine Bühne zu geben, die sich für Gerechtigkeit, Demokratie und Inklusion einsetzen.

Eine fotografische Rückschau finden Sie hier.

Foto: Alain Picard

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