Kulturelle Aneignung

Weitere Begriffe zum Thema Diskriminierung und Verfolgung von Minderheiten:

Als kulturelle Aneignung bzw. cultural appropriation wird ein Prozess beschrieben, bei dem kulturelle Symbole, Genre, Artefakte, Rituale und/oder Technologien einer Kultur von Mitgliedern einer anderen Kultur verwendet bzw. übernommen werden.

In den Kulturwissenschaften ist der Begriff «kulturelle Aneignung» seit den 1970er und in den Medienwissenschaften ab den 1980er Jahren bekannt. In der Ethnologie ist es noch ein junger Begriff. Im Zusammenhang mit kultureller Aneignung stehen in diesen Fachbereichen die Möglichkeiten der Wahrnehmung kultureller Phänomene im Vordergrund.

Kulturen sind nicht homogen, sondern vielschichtig, fragmentiert und oftmals widersprüchlich. Die Vorstellung einer statischen Kultur, als eine abgeschlossene Einheit, wie es beispielsweise der Geschichts- und Kulturphilosoph Johann Gottfried Herder in seinen Schriften im 18. Jahrhundert beschrieb, wurde inzwischen widerlegt. Auch die Vorstellungen einer Ur-Kultur bzw. einer «reinen» Kultur sind überholt. Überall dort, wo Kulturen aufeinandertreffen, kommt es zum kulturellen Austausch und zur kulturellen Aneignung. Dies kann in unterschiedlicher Form und auf verschiedenen Ebenen geschehen.

Die in die deutsche Sprache vermehrt einfliessenden und übernommenen Anglizismen, das Tragen von Tattoos fallen ebenso in die Kategorie der kulturellen Aneignung, wie die erzwungene Umerziehung und Assimilation der Ureinwohner:innen Nordamerikas im 19. Jahrhundert durch die Siedler:innen. Die Hintergründe der genannten Beispiele sowie ihre Auswirkungen sind jedoch völlig verschieden. Eine mögliche Kategorisierung unterschiedlicher Formen der kulturellen Aneignung nahm der US-Amerikanische Kommunikationswissenschaftler Prof. Richard A. Rogers in seinem Artikel «From Cultural Exchange to Transculturation: A Review and Reconceptualization of Cultural Appropriation» 2006 vor. Er unterteilt im Zusammenhang mit aktuellen Debatten kulturelle Aneignungen in vier Kategorien:

  1. Kultureller Austausch: Bei einem kulturellen Austausch findet ein gegenseitiger Austausch von Symbolen, Genres, Ritualen, Artefakten und/oder Technologien zwischen Kulturen statt, dies im Idealfall auf Augenhöhe. Hierzu zählen beispielsweise sprachliche Ausdrücke. In der deutschen Sprache finden sich heute zahlreiche Ausdrücke, die ihren Ursprung im Jiddischen haben, wie z. B. das Wort «Beiz». Ebenso findet sich im Jiddischen eine Vielzahl an Worten und Ausdrücken, die aus der deutschen Sprache entstammen.
  2. Kulturelle Dominanz: Kulturelle Dominanz impliziert laut Rogers das Annehmen von Elementen der dominanten Kultur, dies im Sinne einer Assimilation oder Integration in die herrschende Kultur, aber auch die Praxis des Widerstands. Bezeichnend ist hier jedoch, dass die «unterlegene» Kultur nicht über die Möglichkeit verfügt, frei zu wählen ob diese Elemente der dominierenden Kultur annimmt. Ein prägnantes Beispiel für die kulturelle Dominanz ist die erzwungene Assimilation und Umerziehung von Ureinwohner:innen Nordamerikas im 19. Jahrhundert durch Siedler:innen.
  3. Kulturelle Ausbeutung: Unter kultureller Ausbeutung ist eine Aneignung von Elementen der «untergeordneten» Kultur durch die dominierende Kultur zu verstehen, ohne nennenswerte Wechselseitigkeit, Erlaubnis und/oder Kompensation. Kulturelle Ausbeutung zeigt sich beispielsweise indem kulturelle Objekte ungefragt aus einer Kultur entnommen und in einer anderen kulturell geprägten Gesellschaft in Museen ausgestellt werden, ohne die ursprüngliche Kultur dafür zu kompensieren oder aus der Ausstellung folgenden Gewinnen zu beteiligen.
  4. Transkulturation: Als Transkulturation wird ein Prozess bezeichnet, in welchem Kulturen miteinander interagieren, sich gegenseitig beeinflussen und neue Formen der Kultur hervorbringen. Bei diesen neuen Formen der Kulturen sind die ursprünglichen Kulturen nicht immer erkennbar. Als Beispiel führt Rogers hier das traditionelle Weberei-Handwerk der Navajo in Nordamerika an. Im Verlauf von 150 Jahren veränderte sich die traditionelle Weberei in Bezug auf verwendete Materialien und Muster aufgrund äusserer kultureller Einflüsse. In der Periode von 1864 bis 1910 verwendeten die Navajo das aus Germantown (Philadelphia) importierte Garn, was dazu führte, dass neue Farben und Muster ihren Weg in die traditionelle Weberei fanden. Obwohl die sogenannte Germantown Periode nur etwa 40 Jahre lang andauerte, wird eben diese hybride Form der Weberei aus neuem Garn, Farben und Mustern in Verbindung mit traditionellem Handwerk seit den 1990er Jahren von zahlreichen Mitgliedern der Navajo erneut als traditionelle Form der Weberei eingeführt und vermarktet.

Prozesse der Aneignung können somit aus unterschiedlichen Perspektiven beschrieben werden, einerseits als legitimes Handeln aus der Sicht derer, die sich etwas aneignen, andererseits als Verletzung von Vorrechten. In Diskussionen um kulturelle Aneignung steht daher immer wieder die Frage nach Auswirkungen von strukturellen Zwängen, wie etwa Macht- und Herrschaftskonstellationen.

Aufgrund der Komplexität der ablaufenden Prozesse kann kulturelle Aneignung nicht per se als negativ oder positiv, als Ausbeutung bzw. Entwertung einerseits oder Bereicherung andererseits beschrieben werden. Denn historische, politische und soziale Elemente sowie Perspektiven, aus denen Abläufe beschrieben werden, spielen stets eine entscheidende Rolle, sodass in Diskussionen grössere Zusammenhänge in Betracht gezogen werden sollten.

© GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus, 2022, unter Mitarbeit von Dr. phil. Darja Pisetzki, ehem. Projektmitarbeiterin der GRA.

Weiterführende Literatur:

Hans Peter Hahn: Antinomien kultureller Aneignung: Einführung, in: Zeitschrift für Ethnologie 136, 2011, S. 11-26.

Richard A. Rogers: From Cultural Exchange to Transculturation: A Review and Reconceptualization of Cultural Appropriation, in: Communication Theory 16.4 (November 2006), S. 474-503.

James O. Young: Profound Offence and Cultural Appropriation, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, Ausgabe 63:2, 2005, S. 135-146.

 

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Im Mittelpunkt der Analyse «From the River to the Sea…», «Intifada bis zum Sieg» keinesfalls strafbar? stehen ebendiese Slogans. Sie wurden nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 verstärkt in der Schweizer Öffentlichkeit verwendet. 

Die beiden Autorinnen argumentieren, dass eine strafrechtliche Relevanz der Parolen – insbesondere im Hinblick auf die Diskriminierungs-Strafnorm Art. 261bis StGB – nicht ausgeschlossen werden könne.

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  • Einen Artikel zur Studie finden Sie in der NZZ.
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